Deutschland/CH 2024 · 97 min. · FSK: ab 12 Regie: Sophia Bösch Drehbuch: Sophia Bösch, Roman Gielke Kamera: Aleksandra Medianikova Darsteller: Mathilde Bundschuh, Susanne Wolff, Ulrich Matthes, Viola Hinz u.a. |
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Auf der Suche nach einem anderen Leben... | ||
(Foto: Farbfilm) |
Als Helene Bukowsiki Debütroman »Milchzähne« 2019 erschien, war das tatsächlich eine Überraschung, denn die hier verhandelte Dystopie war in eine derartig fein ziselierte Sprache, abgründige Dialoge und eine immer wieder überraschende Handlung gegossen, dass der Preisregen, der auf Bukowskis Buch niederging, nicht nur selbstverständlich, sondern auch die Übersetzungen ins Französische und Englische folgerichtig schienen.
Vor allem auch deshalb, weil der Roman an einem universalen Ort spielt, der überall sein könnte, sogar auf einem anderen Planeten (und damit sowohl mit Romanen wie Marlen Haushofers Die Wand, Cormac McCarthy Die Straße als auch Chaos Walking von Patrick Ness verglichen werden kann). Aber auch die zentralen Handlungsmomente – eine toxische Mutter-Tochter-Beziehung in einem immer heißer und unwirtlicher werdenden Nicht-Ort und in einer Dorf- bzw. Lebensgemeinschaft, deren zunehmende Fremdenfeindlichkeit sich mit den steigenden Temperaturen verschärft – bieten gerade in unseren heutigen Zeiten mehrheitsfähiger populistischer Politik und immer gravierenderen Umweltkatastrophen fast schon ideale internationale Anknüpfungspunkte.
Etwas irritierend ist es deshalb, dass Sophie Bösch in ihrem Spielfilmdebüt – für ihre Kurz-Doku Meinungsaustausch erhielt sie 2017 den deutschen Short Tiger-Kurfilmpreis, ihr Bachelor-Abschlussfilm Rå wurde mit dem Studio Hamburg Nachwuchspreis ausgezeichnet und gewann 2018 den Deutschen Kurzfilmpreis – die universalen Schnittmengen von Bukowskis Roman fast vollständig außen vorlässt. Weder ist das Wetter oder nachlassende Ernteerträge Thema noch wird die in Bukowskis Roman düster irisierend beschriebene, abgründige, dysfunktionale Beziehung zwischen Skalde (Mathilde Bundschuh) und ihrer Mutter Edith (Susanne Wolff) aufgenommen. Dennoch tragen diese beiden Schauspielerinnen zusammen mit dem von Viola Hinz dargestellten Kind Meisis, das die isolierte Gemeinschaft zu sprengen droht, weil die einen glauben, sie ist ein normales Kind, die anderen aber, dass es Unglück bringe, Böschs Film, gibt es also aus dem, was von Bukowskis Roman bleibt, immer noch genug Fragmente, die auch hier ihre irritierende Wirkung entfalten können.
Dies passiert allerdings nicht an einem austauschbaren Ort wie in Bukowskis Roman, sondern in einem sichtbar deutsch geprägten Habitat, in dem dann auch die bei Bukowskis noch so zart-düster Dialoge eine deutsche Schwere erhalten, die nicht einmal ein Großschauspieler wie Ulrich Matthes in der Rolle des Pesolt auffangen kann, eines Gemeinde- und Ortsvorstehers, der nicht die ambivalente Wucht der Romanvorlage hat oder wie Mads Mikkelsen in der charakterlich sehr ähnlich angelegten Rolle eines Bürgermeisters in Doug Limans Chaos Walking-Verfilmung.
Was bleibt, ist dennoch eine starke Ensemble-Leistung, die das durchaus brandaktuelle Thema des Fremden und des Fremdseins eindringlich verhandelt. Zwar geht auch hier die komplexe Vorlage verloren, wird nicht einmal erwähnt, dass Skaldes Mutter Edith ja auch einst als „Fremde“ in die Gemeinschaft gekommen ist, dafür aber stattdessen das im Buch eigentlich nicht stattfindende Bild des „Wolfskindes“ etabliert und stark und eindringlich inszeniert, das in seiner Dringlichkeit an Nicolette Krebitz und ihren „Wolf“-Film Wild (2016) erinnert. Hier brillieren dann auch die drei weiblichen Hauptrollen in fast schon totengleichen Dialogtänzen, die auch das große Repertoire von Susanne Wolff zeigen, die zuletzt in Frauke Finsterwalders Sisi & Ich mit einer ähnlich königlichen dann aber doch völlig anderen Grundlage ihre Rolle interpretierte.
Und auch die Motivik der Milchzähne, die Film und Buch den Titel geben, wird von Bösch so konsequent wie beeindruckend umgesetzt und mit genügend Leerstellen dann auch der Moment vorbereitet, der die eigentliche Hauptperson von Film und Buch – der alles trennende Fluss – ins Zentrum stellt und aus der Gruppendystopie dann die Möglichkeit einer Familienutopie wird.