Italien/F 2015 · 112 min. · FSK: ab 6 Regie: Nanni Moretti Drehbuch: Nanni Moretti, Valia Santella, Francesco Piccolo Kamera: Arnaldo Catinari Darsteller: Margherita Buy, John Turturro, Giulia Lazzarini, Nanni Moretti, Beatrice Mancini u.a. |
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Regisseurin am Rande des Nervenzusammenbruchs |
»Arbeit für alle!« brüllen die Menschen und ballen die Fäuste. Die Demonstranten sind Arbeiter. Sie wollen hinein in ihre Fabrik, aber deren Tore sind ihnen verschlossen. Sie sollen »freigestellt«, also entlassen werden. Polizei bewacht das Werkstor, und als die Protestierenden drohen, über den Zaun zu klettern, da schwingen sie ihre Knüppel, und beginnen die Arbeiter zusammenzuschlagen…
»Basta basta! Also Stop!« ruft in diesem Moment eine Stimme laut. Und wir verstehen: Die allerersten Bilder von Mia Madre von Nanni Moretti zeigten gar keine Wirklichkeit, sondern die Szene eines Films, der gerade erst gedreht wird. Film im Film. Die Stimme gehörte Margherita, der Hauptfigur. Mit Intensität und Nuancenreichtum verkörpert Margherita Buy die Filmregisseurin, die vermutlich das Alter Ego Morettis ist.
»Ich will den Schauspieler sehen und daneben die Figur, next to the character.« Der Satz, den die Regisseurin ihren Darstellern als Regieanweisung sagt, und den wohl noch nicht mal sie selbst versteht: – sie wolle den Schauspieler sehen und daneben die Figur, »next to the character« – wird zu einem der vielen Running-Gags dieser sanften, nachdenklichen Film-im-Film-Komödie.
Kinokunst ist harte Arbeit, das zeigt uns Moretti in diesem Film ganz nebenbei, so wie auch diese erste Szene einen doppelten Boden hat: Die Arbeiter, die in die Fabrik wollen, spiegeln nämlich natürlich auch die frühesten Kino-Bilder überhaupt. Sie stammen aus dem einem der ersten Filme der Filmgeschichte: Arbeiter verlassen die Fabrik ist das Werk der Brüder Lumière, mit dem das Kino 1895 begann.
Dieses Bekenntnis Morettis zum Anfang der siebten Kunst und den Lumierè-Brüdern ist auch eines zum Realismus, zu einem Kino, das Wirklichkeit abbilden, nicht phantastische Alternativwelten errichten will.
Bei Margheritas neuem Film läuft nicht alles nach Plan. Wir sehen sie bei der Arbeit und zu Hause, erleben, wie sie mit sich hadert, wie sie träumt. Sie will Realität zeigen, will relevantes Kino machen. Aber sie merkt, dass sie von der Welt immer weniger begreift. »Ich verstehe gar nichts mehr«, sagt sie einmal. Da wird auch noch ihre Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Vielleicht muss sie bald sterben.
Margherita ist in einer Lebenskrise. Oder macht sie etwa alles falsch? Von allen Seiten bekommt sie jedenfalls ungebetene Ratschläge: »Margherita, mach doch endlich mal was Neues, was ganz anderes, ja. Ändere wenigstens mal eine deiner Methoden, eine der 200. Lass Dich ab und zu doch einfach mal gehen. Und nimm die Dinge leichter...«
Nanni Morettis neuer Film ist das Portrait dieser beiden Frauen, der Regisseurin Margherita und ihrer Mutter Ada, sowie einer dritten, ganz jungen: Margheritas Tochter. In Rückblicken, Tag- und Alpträumen ist dies vor allem eine Selbstreflexion der Hauptfigur, die in der Mitte zwischen Jugend und Alter steht und sich in Mutter und Tochter spiegelt.
Die Mutter der Regisseurin ist Professorin, und es gibt auch einen Erzählstrang, der um die Latein-Nachhilfestunden kreist, die sie ihrer pubertierenden Enkelin regelmäßig gibt. Darin erklärt sie indirekt auch uns im Publikum die Bedeutung von Latein und das Wesen der europäischen Kultur. Die Wohnung der alten Dame ist vollgestopft mit Büchern. Viele von ihnen sind kaum jünger, als ihre Besitzerin. »Was wird nur aus den Büchern werden, wenn Mutter tot ist?« fragt die Tochter verzweifelt. Gute Frage, denn Bücher sind für die Lebenden. In einer der letzten Szenen sieht man – noch ist es ein Tagtraum – die leeren Regale. Die Bücher der Mutter und damit ihre Seele, sind in Kisten verpackt. Ein treffenderes Bild für Abschied, für den Tod hat man lange nicht gesehen. Der Trost ist, dass ein Teil von der Großmutter wiederauferstehen wird, wenn diese Bücher zusammenbleiben und wieder in einer anderen Wohnung aufgestellt werden.
Zugleich beschreibt der Film, der viele Familienszenen zeigt, das Wesen von Familie und Mütterlichkeit. Moretti beschreibt das Wesen von Verwandtschaft, die Tatsache, dass es auch Ersatzfamilien und Wahlverwandtschaften gibt, die kaum weniger bedeutend sind als die Kernfamilie: Die Männer sind gegenüber den Frauen eher Randfiguren und manchmal unsensible Idioten – vor allem der Hauptdarsteller des Films, den Margherita gerade dreht und den Hollywoodstar John Turturro als herrliche Karikatur zwischen Größenwahn und Eitelkeit spielt. »Grande Regista! Grande, grande, grande!! Sensibilità!!!«
Mia Madre ist also eine selbstreflexive Film-im-Film-Komödie mit manchem Tiefgang – sie überzeugt auch als gescheiter Essay darüber, was eigentlich Wirklichkeit bedeutet – und in vielen dichten, geistreichen und witzigen Momenten. Es gibt Momente, wie die Erinnerung Margheritas daran, wie sie in einer langen Schlange für den Film Der Himmel über Berlin anstand. Da ist der Film in jeder Hinsicht schön: Geistreich, witzig, toll gemacht, wehmütig.
Dies ist gutes, im besten Sinne altmodisches Unterhaltungskino, sehr europäisch, im ganzen Ton und Machart jenseits von Hollywood. Kinokunst ist harte Arbeit, auch in dieser ironischen Komödie über das Kino – »Es wird kein trauriger Film«, sagt Margherita ihrer Mutter einmal über ihre Arbeit. Das gilt auch für Mia Madre selbst.