Großbritannien 2012 · 158 min. · FSK: ab 12 Regie: Tom Hooper Drehbuch: William Nicholson, Alain Boublil, Claude-Michel Schönberg, Herbert Kretzmer Kamera: Danny Cohen Darsteller: Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Amanda Seyfried, Sacha Baron Cohen u.a. |
Es fängt ganz laut an. Und wird dann immer lauter: Schiffe in einem Hafen; heftiger Sturm ist aufgezogen und ein Gefangenenchor setzt ein. Männer an Ketten singen mit lauten Stimmen gegen die Böen an, die Kamera schwurbelt über ihre Köpfe hinweg, wie hin- und hergerissen von Windstößen. Dann schwenkt der Fokus in die Höhe, zoomt heran, und dort auf dem Hafenkai trohnt ein Einzelner hoch über den Unglücklichen: Es ist Inspektor Javert, berüchtigt und gefürchtet, der Mann ohne Vornahmen, der Bösewicht dieses Films.
So setzt Les Misérables ein. Wie das Musical, das ihm zugrundeliegt, wie Victor Hugos »Die Elenden«, der Roman, auf dem beide basieren, handelt er im Kern von der Rivalität zweier Männer, die in ihrem Schicksal aneinandergekettet sind, wie die Sklaven an die Galeere, und von der Erlösung, die ihnen beiden erst der Tod bieten wird.
Tom Hoopers Verfilmung dieses Musicalwelterfolgs war acht Mal für den Oscar nominiert und dreimal siegreich. Dies ist auch seit langem wieder einmal ein Film, der mit Fug und Recht die Bezeichnung Monumentalfilm verdient. In jeder Hinsicht, mit allen Vor- und Nachteilen: Also unbedingt »bigger than life«, also voller Pathosgesten, bewegend, mitreißend, intensiv, wohltuend emotional, erschreckend sentimental, kitschig, dick aufgetragen, immer etwas zu überdreht, immer 120 Prozent gebend, auch da wo 100 schon zuviel wären, hochgradig unterhaltsam und hochgradig unbescheiden – aber kein pures Eskapismuskino. Zu allererst ein Melodram, in dem es um kristallklare große Gefühle geht, aber auch eine leidenschaftliche Verteidigung der Unterdrückten, die Geschichte eines Rechtlosen in einer Gesellschaft, die brutal ist.
Und darin ist Hugos Stoff dann unbedingt modern: In der Anklage von Ausbeutung und Ungleichheit, von der unmenschlichen Gerechtigkeit moralischer Mathematiker, in der Forderung nach Solidarität: »Do you hear the people sing? Singing the song of angry men?«
Die eigentliche Handlung ist schnell erzählt: Nach 19 Jahren Haft kommt Jean Verjean (verkörpert vom virilen Hugh Jackman) frei, wird aus Not schnell wieder zum Dieb und erst dadurch geläutert, dass ihn ein Priester nicht denunziert. Nun tut er Gutes, steigt zum Wohltäter und geachteten Bürger auf im nachnapoleonischen Paris. Doch als ihn sein alter Gefängnisscherge Javert (würdevoll von Russel Crowe gespielt) wiedererkennt, und wegen Verletzung der Meldepflicht und falscher Identität anklagt, muss er fliehen. Rührend kümmert er sich wie ein Vater um das Waisenkind Cosette (Amanda Seyfried), deren Mutter Fantine (Anne Hathaway) er am Totenbett ein Versprechen gab – dabei wird er immer verfolgt vom so sturen wie fiesen Javert. Schließlich muss er sich, mitten in den Wirren der Aufstände von 1832 gegen die Julimonarchie, seiner Vergangenheit stellen...
1815, 1823, 1832 – das sind die wesentlichen Stationen von Victor Hugos Roman, den der Autor 1862 veröffentlicht hat, also 30 Jahre nach der Handlung, im nostalgiegetränkten Rückblick auf die auch eigenen wilden Jahre des nachnapoleonischen Zeitalters. Die Barrikade von 1832 und die von der Nationalgarde blutig niedergeschlagene Revolution steht im Zentrum. Die Handlung bei Hugo wie bei der von Trevor Nunn und Claude-Michel Schönberg stark bearbeiteten Musicalversion ist moralisierend und bietet eine religiöse Deutung dieser Revolution.
Entscheidend ist aber nicht dieser dick aufgetragene Kolportagestoff, entscheidend ist die noch viel dicker aufgetragene Musik, die in diesem Fall von den Darstellern selbst im Sprechgesang, nicht immer musikalisch sicher, aber darstellerisch ausdrucksvoll intoniert wird. Es sind Gassenhauer, ja. Aber eben gute Gassenhauer.
Hooper inszeniert alles so kurzweilig wie bombastisch. Mit knapp drei Stunden wird das Musical kaum gekürzt. So reiht sich ein Gassenhauer an den nächsten. Ein besonderer Höhepunkt sind dabei jene Passagen, in denen zwischen all den großen Gefühlen auch Humor und Ironie möglich sind: Wenn Helena Bonham Carter und Sasha Baron Cohen als niederträchtiges, nur auf Profit scheelendes Kleinbürger-Wirts-Paar auftreten: – »Master of the house/ keeper of the zoo« heißt das dazugehörige Lied. Visuell ist alles prächtig inszeniert, und Hooper malt auch den Dreck der Epoche, die Hässlichkeit des Elends und der schlechten Zähne mit allen Farben aus.
Nur manchmal spürt man, dass der Regisseur seiner Story selbst nicht ganz glauben kann: Seine Verfilmung ist nach über 20 Vorgängern einerseits klassisch in ihrem Ernst und ihrer Werktreue, zugleich postmodern in ihrer ungeheuren Effektivität. Ein Film, den man unbedingt empfehlen kann: Für die Musicalfans verlässlich, für die Kinoliebhaber, die nicht nur Autorenfilme gucken, eine Erinnerung an alte Zeiten. Und für alle, das was man im Englischen eine guilty pleasure nennt: Man weiß dass es an die eigenen niederen ästhetischen Instinkte appelliert, aber manchmal ist das auch sehr gut so. Auch das ist Kino im ureigenen Sinn.