Frankreich/E/P 2024 · 104 min. · FSK: ab 16 Regie: Alain Guiraudie Drehbuch: Alain Guiraudie Kamera: Claire Mathon Darsteller: Félix Kysyl, Catherine Frot, Jacques Develay, Jean-Baptiste Durand, David Ayala u.a. |
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Cruisen in der Pilzsaison | ||
(Foto: Salzgeber) |
»Der Tod ist nicht das Ende, er ist nur eine Passage«, salbt der Landpfarrer bei der Beerdigung des Bäckermeisters. Bei ihm hat Jérémie einst gelernt, jetzt erweist er ihm mit der Rückkehr in seinen Heimatort Reverenz. Als er bei der Bäckerswitwe unterkommt, zettelt er einen Reigen der Stelldicheins an – deren Frequenz deutlich zunimmt, als ein Mord oder Totschlag geschieht: Wer weiß das schon. Das wiederum ruft die Gendarmerie auf den Plan, und die christliche Barmherzigkeit, die titelgebende »Misericordia«. So wird der Landpfarrer seinen großen Auftritt erst noch haben. Jedoch nicht als Seelsorger, sondern in einer Szene, die dem Bauerntheater mehr als würdig ist.
Zunächst wird der aus Toulouse kommende Jérémie bereitwillig in den geschlossenen Dorf-Kosmos hereingelassen. Félix Ksysl spielt Jérémie mit urbaner Eleganz, die unter den Dorfbewohnern hervorsticht. Je mehr er aber mit den Bewohnern im wahrsten Sinne auf Tuchfühlung geht, desto mehr wird er einer von ihnen, und desto weniger kommt er von dem Ort los. Jérémie ist nicht nur der Eindringling, er wird auch zum unfreiwilligen Substitut, zum Büßer der Lücke, die der grenzdebile Bäckerssohn und der verstorbene Bäckermeister hinterlassen haben.
Die Witwe Martine (Catherine Frot) empfängt ihn mit offenen Armen, zeigt ihm die Backstube, die der arbeitslose Jérémie doch wieder in Betrieb nehmen könne. Dann blättern sie gemeinsam im Fotoalbum. Da ist er, der Bäckermeister, mit knapper Badehose, braungebrannt am Strand. Jérémie absorbiert das Foto regelrecht: Da scheint eine Leidenschaft, eine Geschichte gewesen zu sein.
Am Abend überredet Martine Jérémie zu bleiben: der viele Alkohol, der lange Weg nach Toulouse. Also bleibt er, im Jugendzimmer des Sohnes Vincent (Jean-Baptiste Durand). Zunächst ist alles ganz freundschaftlich, die Jungs tauschen Erinnerungen aus, an den Wänden die Poster mit Fußballspielern in dramatischen Posen. Am Tag darauf sieht sich Jérémie die Gegend an, geht in den Wald, in dem Pilzesucher unterwegs sind. In der Nacht steht dann plötzlich Vincent an seinem Bett. Er will wissen, wann er wieder zu fahren gedenke, oder ob er sich jetzt an seine Mutter heranmachen wird, als Witwentröster.
Hier geht es ganz beiläufig auch um die existenziellen Dinge, um die Endlichkeit des Lebens und den Tod, um das Begehren und den Kampf. Die Themen entfalten sich im Spiel der Wiederholungen, sie schaukeln sich komödiantisch auf, werden zu Running Gags und kulminieren im Rollentausch von Schuldigem und Vergebendem, von Sünder und Beichtvater. Nachts die Besuche am Bett von Jérémie, am Tag der Spaziergang in den Wald, die langen Wege, auf denen das Laub liegt, die immergleiche Lichtung, auf der wie beim Cruising die Pilzesucher hinter den Bäumen auftauchen (man denkt sofort an Guiraudies Der Fremde am See) und, wie ein Pilz aus dem Boden geschossen, der Landpfarrer. Weil sich der Aufenthalt hinzieht, bekommt Jérémie Kleidung vom verstorbenen Bäcker. Ob Martine nicht auch Slips und Socken von ihm habe?
Slips, Socken: das ist, was man unmittelbar auf der Haut trägt, das dem Körper ganz nahe ist, das Begehren zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. So lädt sich die Symbolbewehrtheit der Kleidungsstücke als Fetisch für das Unerreichbare unmissverständlich auf, als Jérémie die riesige graue Unterhose und das ausgeleierte Feinripphemd bei seinem Jugendfreund Walter (David Ayala, demnächst in Beating Hearts) überstreift. So ist er Walter ganz nahe.
Die Kleidungsstücke stehen stellvertretend für die Körper, sie sind wahre Objekte der zwischenmenschlichen Begierde in diesem »erotischen Film ohne Sexszenen«, so Guiraudie über seinen Film. Dazu gehört auch das fast rituelle Raufen, das Jérémie mit Vincent auf der Waldlichtung austrägt, ein Ringen verkeilter Körper. Währenddessen indiziert das unterirdische Myzel der Pilze verborgene Ereignisse: Die plötzlich im Herbst sprießenden Morcheln – obwohl dafür gar nicht die Jahreszeit ist – machen die Waldlichtung suspekt. Das Pilz-Omelette bekommt Jérémie nicht hinunter.
Immer wieder kann man bei Misericordia an Luis Buñuel denken, an den Landpfarrer mit den Geheimnissen. Auch der Buñuel’sche Würgeengel hat die Gegend fest im Griff, wenn Jérémie aus dem Ort einfach nicht mehr herauskommt, weil sich ihm immer wieder Figuren in den Weg stellen.
Mit den ruhigen Kamerabildern von Claire Mathon taucht man tief in den Wald und in die unbeleuchtete Nacht des Dorfes ein. Bald kennt man dort jeden Stein: Der Film ist auch eine Hommage an das Leben in der Provinz, das man sich als boulevardesken Thriller vorstellen muss. Und so hat Alain Guiraudie mit Misericordia einen abgründigen und lustvollen Schwank geschaffen, der jedes Tabu von vorne nimmt und, um es mit den Worten von Nicolas Wackerbarth zu sagen, »wohl einen der schönsten Ständer der Filmgeschichte« vorzuweisen hat. Und trotzdem eine tiefgründige Meditation über Schuld und Sühne sein kann, über die Natur des Menschen und die Natur der Natur – und über die barmherzige Nächstenliebe und das Erbarmen. »Du darfst meine Hand halten«, mit diesen trostspendenden Worten endet der Film.