Argentinien/Brasilien/Chile 2022 · 190 min. · FSK: ab 12 Regie: Rodrigo Moreno Drehbuch: Rodrigo Moreno Kamera: Alejo Maglio, Inés Duacastella Darsteller: Daniel Elías, Esteban Bigliardi, Margarita Molfino, Germán De Silva, Mariana Chaud u.a. |
||
Raus aus der Unternehmensmonotonie! | ||
(Foto: Mubi) |
Der bescheidene Bankangestellte Román (Esteban Bigliardi) denkt sich nichts dabei, als sich sein nicht minder durchschnittlicher Kollege Morán (Daniel Elías) eines Tages nach Feierabend mit ihm treffen will. Bei einem Glas Bier und einem Stück argentinischer Pizza am Stehtisch im Imperia, einer der ikonischen populären Pizzerien in Buenos Aires, übergibt ihm Morán eine Reisetasche mit einer Unmenge an Dollars, die er in einer günstigen Gelegenheit aus dem Tresor ihrer Bank entwendet hat. Román soll es aufbewahren und verstecken, ansonsten aber normal weiterarbeiten und möglichst unauffällig bleiben. Morán will sich nach einer Zeit des Untertauchens stellen und die Strafe absitzen. Danach könnten sie die Beute genießen und sich ein Leben in Muße gönnen. Die paar Jahre Gefängnis für Diebstahl scheinen ihm gegenüber der Bürozeit bis zur Rente nicht weiter ins Gewicht zu fallen. So wird Román unvermutet und ohne eigenes Zutun zum Komplizen des Coups seines Kollegen.
Als sich diese Szene in dem dreistündigen Film Los delincuentes (deutsch: Die Missetäter) von Rodrigo Moreno (Regie und Drehbuch) abspielt, ist die Handlung schon etwas fortgeschritten und ein ruhiger, gelassener Erzählton längst etabliert. Das banale Angestelltendasein in Buenos Aires ist der Stoff, aus dem dieser Film gemacht ist, mit all den Routinen in Büro und zu Hause, die sich zu skurrilen Ritualen verfestigt haben. Dabei kippt das existentialistische Alltagspathos mit seinem Heroismus der Monotonie immer wieder in absurde Situationskomik.
Die bewährten Genremotive eines Heistmovies werden hier in das urbane Buenos Aires verpflanzt, in eine Atmosphäre, die sich sukzessive mit gelebtem Alltag sättigt und anreichert, mit jeder einfachen Geste, die gemacht, jedem Glas Wasser oder Bier, das getrunken, und jeder Zigarette, die geraucht wird. Physisch beglaubigte Wirklichkeit erzeugt einen vollkommen natürlichen Erzählfluss, der über drei Stunden lang mühelos in Bann zu schlagen vermag.
Die Standardmotive des Genres werden episch ausgespielt und die Spannung nährt sich vor allem daraus, ob den beiden kleinen Angestellten der Coup nicht irgendwann doch über den Kopf wächst. Der Druck, dem sich Morán im Gefängnis ausgesetzt sieht, ist nämlich größer als gedacht. Und auch Román vermag den hartnäckigen Nachforschungen der internen Ermittlerin in der Bank nur mühsam standzuhalten.
Tragikomische Volten führen die beiden Delinquenten zeitversetzt ins Hinterland der Provinz Córdoba, wo ein Teil der Beute in der abgelegenen Landschaft versteckt wird. Dabei kommt es in der idyllischen Natur zu Begegnungen, die den Traum von einem neuen Leben abseits der stumpfen Alltagsroutine in der Hauptstadt auch mit erotischen Verheißungen aufladen. Dass die Schwestern Norma und Morna und ihr Begleiter Ramón, auf die Román und Morán jeweils treffen, mit all ihren Namen ein regelrechtes anagrammatisches Kaleidoskop aus den gleichen Buchstaben entfalten, gibt der Geschichte einen fiktionsironischen Twist, der an den großen argentinischen Phantasten Jorge Luis Borges denken lässt.
Die argentinische Poesie bekommt dann auch noch ihren großen Auftritt, wenn Morán im Gefängnis das surrealistische Langgedicht »La Gran Salina« von Ricardo Zelarayán (1922-2010) rezitiert. Eine fast schon delirante Passage, die endgültig beweist, dass dieser Film auf äußerst generöse Weise einen Reichtum des Erzählens feiert und die ökonomischen Zwänge der schnöden Wirklichkeit weit hinter sich gelassen hat. Und damit genau das praktiziert, wonach sich die beiden Protagonisten in ihren Ausbruchsphantasien sehnen. Die männlichen Phantasmen bedienen sich zwar der scheinbar naiven Formeln des Gangster-, Abenteuer- oder Westerngenres. Und die zögerlichen Gauner- und Machoallüren, die die beiden Delinquenten als Posen der Freiheit ausprobieren, stehen immer unter einem skeptisch-ironischen Vorbehalt. Doch liegt darin durchaus ein utopisches Moment. »Adónde está la libertad« (»Wo ist die Freiheit?«) fragt hintergründig ein Song der Debüt-LP »Pappo’s Blues« (1971) der gleichnamigen argentinischen Bluesrockband, die von Morán wie ein Talisman oder Fetisch weitergereicht wird. Rodrigo Moreno versteht es, mit spielerischer Leichtigkeit die unterschiedlichsten Register zu ziehen und so ein höchst vergnügliches Erzählwunder zu schaffen.
»Ja, mach nur einen Plan!/ Sei nur ein großes Licht!
Und mach dann noch’nen zweiten Plan/ Gehn tun sie beide nicht.
Denn für dieses Leben/ Ist der Mensch nicht schlecht genug.
Doch sein höhres Streben/ Ist ein schöner Zug.«Bertolt Brecht, »Balade von der Unzulänglichkeit menschlichen Planens«
Die Handlung dreht sich um einen ungewöhnlichen Bankraub: Die Hauptfigur Morán (Daniel Elías) ist, so scheint es, ein ziemlich durchschnittlicher Mensch. Er lebt, unverheiratet, ohne teure Hobbys und exzessive Eigenschaften, ein ganz schön langweiliges Spießerleben in einem kleinen Appartment in Buenos Aires. Tagsüber arbeitet er als Schatzmeister einer Genossenschaftsbank.
Eines Tages aber entfaltet er ungeahnt wilde Seiten: Da beobachten wir ihn, wie er plötzlich aus der Routine ausbricht. Er stiehlt von seiner eigenen Bank mehr als 650.000 Dollar, und hat anscheinend alles, was danach passieren soll, genau geplant: Er weiß genau, dass er nach wenigen Tagen identifiziert und gefasst werden wird. Aber er hat sich ausgerechnet, dass die Aussicht auf dreieinhalb Jahre Gefängnis, die er bei guter Führung dann noch absitzen muss, angenehmer ist, als 25 Jahre lang seinem sterbenslangweiligen Nine-to-five-Job in der Sparkasse nachzugehen – danach wird das Geld, bei sparsamer und kontrollierter Lebensführung, für den Rest seines Lebens reichen. Er handelt allein, aber nachdem er das Geld gestohlen hat, zieht er seinen Kollegen Román (Esteban Bigliardi) hinzu, und erpresst ihn, das Geld an einem sicheren Ort aufzubewahren. Dafür soll Román die Hälfte davon abbekommen.
+ + +
Vertrauen und Kontrolle, die Macht der Ordnung und die Macht des Zufalls – dies sind die Pole, um die dieser Film kreist.
Denn auch die besten Pläne funktionieren nie perfekt; der Zufall, die Liebe und das Leben können den besten Plan stören.
Denn indem Morán Román gegen dessen Willen zum Komplizen macht, ermächtigt er sich über ihn, beutet ihn aus, und erschafft sich überdies anstelle eines Komplizen einen Doppelgänger, der sein eigenes Leben als Bankangestellter weiter leben muss, während er in seiner Zelle die Zeit vergehen sieht.
Letzteres wird für ihn allerdings anstrengender, als vermutet, denn im Knast gibt es Kreise, die nicht zu Unrecht vermuten, dass bei ihm Geld zu holen ist und ihn zu Schutzzahlungen
zwingen. Außerdem ermittelt die Polizei, die ahnt, dass mehr hinter Moráns Raub steckt, als der sie weißmachen will, und dass er einen Komplizen haben muss.
Darüber hinaus wird die Bank von einem Angestellten der Versicherungsgesellschaft untersucht, die den Schaden ersetzen muss. In dessen Verlauf werden die Gehälter gekürzt, Entlassungen vorgenommen und das Leben der Angestellten zur Hölle gemacht. Moráns Tat hat soziale Folgen, die er in seine Berechnungen nicht einkalkuliert hat.
Am Ende ist das interne Umfeld der Bank allerdings aus dem Film praktisch verschwunden und taucht allenfalls sporadisch nochmal kurz wieder auf. Zu den wenigen Vorwürfen, die man dem Regisseur machen kann, ist dass er die Ignoranz, die er »dem System« implizit vorwirft, an Stellen wie diesen selbst reproduziert.
+ + +
Die erste Stunde, man könnte fast sagen, der gesamte erste Teil von Los delincuentes (deutsch: Die Missetäter) ist Genrekino, ein geradezu altmodischer Safeknackerfilm. »Altmodisch« ist hier als Beschreibung der Absicht und der Grundidee des Regisseurs Rodrigo Moreno zu verstehen. Diese Annäherung ans Genre ist nämlich nur ein Sprungbrett, um vom Genre des urbanen Kriminalfilms zur Abstraktion ländlicher Landschaften zu führen. So gesehen ist Los delincuentes in seinen drei umwerfenden, kurzweiligen Stunden auch so etwas wie eine Zusammenfassung der Entwicklung des Kinos selbst vom Klassizismus zur Moderne. Wir kennen das auch aus anderen argentinischen Filmen, etwa Laura Citarellas Trenque Lauquen. Auch in seiner sehr speziellen Mischung aus Humor und Melancholie, wie sie für Argentinien so typisch ist, erinnert der Film an andere Erfolgsfilme aus Argentinien und an ihren ganz speziellen Flair: Trenque Lauquen, La Flor und El Etudiante, mit dem Moreno vor einigen Jahren bekannt wurde.
+ + +
Im zweiten Teil stellt Regisseur Rodrigo Moreno der kafkaesken Welt aus Bürokratie, Verwaltung und institutioneller Macht, die in der Sparkasse und dem städtischen Leben dominiert, eine ländlich-provinzielle Gegenwelt gegenüber, die fast utopisch-paradisischen Charakter hat. Denn bei einer Reise aufs Land, wo er das Geld in einem abgelegenen Teil der Provinz Córdoba zu verstecken versucht, trifft Román auf eine Frau und eine alternativ lebende Gemeinschaft. In diese Frau namens Norma (Margarita Molfino) hat sich – wir haben es zuvor bereits gesehen – auch Morán verliebt...
So leben die einen das Leben der anderen, so vermischen sich Namen und Schicksale und die jeweiligen Spielregeln...
Auch kokettiert Moreno in verschiedenen Momenten mit der Farce, die sein Film nicht zuletzt ist, unter anderem, indem er den Gefängnisdirektor mit demselben Schauspieler besetzt, der auch den Generaldirektor der Bank spielt, aus der Morán durch die Straftat entkommen ist. Hört, hört: Der Chef eines Gefängnisses und der Chef einer Bank sind sich ähnlicher, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Die erzählerische Absicht ist für alle erkennbar. Lustig ist es trotzdem.
+ + +
Es wird immer absurder. Irgendwann fällt uns auf, dass die Namen Morán und Román Anagramme sind. Und Norma... auch! Ist das nur ein Verwirrspiel des Regisseurs oder hat das alles tiefere Bedeutung. Julio Cortázar – ein Argentinier – hat in seinem Roman »Rayuela« (1964) einst verschiedene Lese-Reihenfolgen vorgeschlagen...
Es könnte auch alles ein Traum gewesen sein, weil vielleicht nichts so ist, wie es scheint, und das einzige Schicksal der Figuren des klassischen Kinos im narrativen Rahmen des modernen Kinos nichts anderes ist als das des bloßen Verschwindens, wie bei Antonioni, wo sie plötzlich von der Erde verschluckt werden.
+ + +
Wer so etwas befürchtet, den kann man trösten: Los delincuentes flirtet mit der Moderne, aber er bleibt am Ende ein Film des klassischen Kinos. Immer wieder entfaltet Moreno erstaunliche, auch für die Anhänger des Postklassischen überraschende Seiten. Das ist das Allerbeste an diesem Film: Seine mutige Bereitschaft, Erwartungen ständig zu brechen. Die unerhörte Intensität, die der Film von Anfang an entfaltet, und mit der er uns im Publikum geschlagene drei Stunden lang an unseren Sessel schraubt und die Zeit vergessen lässt, bleibt bis zum Ende bestehen. Ein Bankräuber- und Geldraub-Plot trifft sich mit einer Doppelgängergeschichte, mit einem an Jean Renoir erinnernden humanen Realismus und mit Momenten sanfter Rohmer-Romantik. Das Ganze ist nicht lethargisch, sondern ruhig.
Spätestens am Ende dieses ausgezeichneten, sehr schönen Films, und es ist ein Happy End, wird klar, worum es dem Regisseur geht: Um die Freiheit.
Aber was ist die Freiheit eigentlich nochmal? Das ist ein neuer Film.