Missverstanden

Incompresa

Italien/Frankreich 2014 · 106 min. · FSK: ab 12
Regie: Asia Argento
Drehbuch: ,
Kamera: Nicola Pecorini
Darsteller: Giulia Salerno, Charlotte Gainsbourg, Gabriel Garko, Carolina Poccioni, Anna Lou Castoldi u.a.
Kein Platz, nirgends

Von einer Zerrissenen

Es ist weitaus mehr als mangelndes Vers­tändnis, das prägend die Kindheit der neun­jäh­rigen Aria durch­zieht. Sonst wäre ihre filmische Verar­bei­tung nicht so schmer­z­lich und bitter. Aber schon der Origi­nal­titel arbeitet mit einer Unter­trei­bung, geradezu einer gnädigen Nachsicht gegenüber ihren Leidens­be­för­de­rern, die sich so zahlreich durch den Film ziehen. Für die Eltern des (eine heraus­ra­gende Casting­leis­tung!) glei­cher­maßen naiven wie melan­cho­lisch-intel­li­genten Mädchens Aria (Giulia Salerno) existiert diese nicht als Indi­vi­duum, das man erziehen soll und behüten muss. Wenn überhaupt, dann kommt sie als Spielball der eigenen Inter­essen gelegen. Für die Klas­sen­ka­me­raden ist sie eine aus einer anderen Welt, gehört nicht dazu, mit jedem Versuch, dies zu ändern, noch weniger. Das ist das Bedrü­ckende an Asia Argentos drittem Spielfilm Miss­ver­standen, dass er vielmehr von einem unbe­ach­teten, verstoßenen Mädchen handelt, das sich schmer­z­lich lange in das Spiel­ball­da­sein fügt und dessen sämtliche Licht­blicke sich schellend zerschlagen, schließ­lich fast sie selbst.

Aria ist die Tochter bekannter Künstler und entstammt einer Welt, die man in dieser glaub­wür­digen Ausmalung am ehesten aus einem Film wie Sofia Coppolas Somewhere kennt. Auch dessen Erzählung bewegt sich in den Kreisen von Berühmt­heiten, deren glanzvoll-trüge­ri­scher, oft ephemerer medialer Glanz nicht auf das Leben ihrer Kinder abstrahlt. Derartige unmarkt­schreie­ri­sche Erfah­rungs­be­richte aus erster Hand (wie Coppola ist Asia Argento Tochter film­berühmter Eltern) sind selten, gerade im Film, und wider­legen als künst­le­risch verdich­teter Ausdruck allge­mein­mensch­li­cher Gefühls­zus­tände sofort alle Zweifel, warum man sich für sie inter­es­sieren kann, obwohl sie in einer scheinbar privi­le­gierten Sphäre spielen.

Arias Vater (Gabriel Garko) wird als glänzend-künst­li­cher Schau­spiel­schön­ling vorge­stellt, dessen hinge­bungs­voller Kampf um eine Charak­ter­rolle noch das Sympa­thischste an ihm ist. Der notorisch Migräne hat (oder vorschützt, um in Ruhe gelassen zu werden), der den Drogen ergeben ist und den der Anblick schwarzer Katzen und zerbro­chener Spiegel in Nerven­zu­sam­men­brüche treibt. Es liest sich nicht nur als Karikatur, sondern wird als solche auch filmisch ausge­spielt, wie ein destil­liertes Klischee eines Popu­lär­schau­spie­lers, dessen Ruhm nicht den Mangel an sinn­stif­tendem Lebens­trieb kompen­sieren kann. Um einiges tief­grün­diger und inter­es­santer ist die Figur von Arias Mutter angelegt (Charlotte Gains­bourg), eine klas­si­sche Pianistin, ebenfalls erfolg­reich in ihrer künst­le­ri­schen Tätigkeit. Zeit­rau­bende Proben, wech­selnde Liebhaber und gleich­falls Drogen sind hier der Grund, warum die in dieser Beziehung durchaus angelegte Zärt­lich­keit und Gebor­gen­heit nicht dauerhaft bleiben. Früh in der Erzählung trennen sich die Eltern, und Aria wählt in der Folgezeit ihren Aufent­halt bei einem Eltern­teil danach aus, ob der andere Teil gerade zurech­nungs­fähig ist oder nicht. In der neuen Wohnung des Vaters regiert die verzogene und gehässige ältere Schwester, bei ihrer Mutter hängen oft uner­quick­liche Liebhaber oder Abend­ge­sell­schaften ab. Mehrmals im Verlauf des Films packt Aria ihre Koffer und steht an der Schwelle der jeweils anderen Wohnung. So häufig wird diese Szene gezeigt, dass sich die physische Anstren­gung des Koffer­tra­gens hin und her in den Kinosaal überträgt, wobei das Serielle zugleich ein humo­ris­ti­sches Moment enthält. Stoisch nimmt Aria es hin. Wenn beide Türen verschlossen bleiben, geht sie auf die Straße. Über­nachtet auf dem Gras eines Stadt­parks, Seite an Seite mit Punks und Prosti­tu­ierten, genauso sehr Anders­ar­tige, denen Argentos filmi­scher Blick viel mehr Empathie entge­gen­bringt, weil ihre Verrückt­heit und Wildheit eine natür­liche ist.

Die Erin­ne­rung an einen Film ist vergleichbar mit Jugen­der­in­ne­rungen: sie setzt sich aus Farben, Geräu­schen, Bildern zusammen. Im Gegensatz zu vielen Filmen, die heut­zu­tage in die Kinos kommen, weiß Regis­seurin Argento (wie sie es auch schon als Schau­spie­lerin wusste) Akzente zu setzen, visuelle Glan­z­punkte. Jede Einstel­lung ist durch­zogen von kräftigen, gesät­tigten Farben wie aus barocken Gemälden, sie bleiben nach­haltig zurück, lange nachdem man den Kinosaal verlassen hat. Nichts hier ist weich­gez­eichnet, Canon-isiert, hinge­worfen, sondern präzise gesetzt, die Kamera steht an einem bestimmten Punkt, weil sie dort hingehört. Auf 35mm-Film­ma­te­rial gedreht, haben die Bilder Tiefe und ein inneres Pulsieren. Damit geht einher, dass wir es keines­wegs mit Fern­seh­spiel­na­tu­ra­lismus zu tun haben, wie der Stoff es gut hergeben würde. Arias an sich trister Alltag wird durch die insze­na­to­ri­sche Finesse (manchmal sogar: Opulenz) erhöht, verdichtet. Einige Jahre früher hätte Argento diese Kind­heits­er­in­ne­rung ganz sicher anders gemacht, man kann es im Vergleich mit ihrem ersten vor über zehn Jahren entstan­denen Regiewerk Scarlet Diva nur erahnen, wie sich innere Wut in losgelöste Bilder umgesetzt hätte, die nichts mit klas­si­schem Erzähl­kino zu tun haben wollen. Wobei Miss­ver­standen in ihrer manchmal eckigen und arhyth­mi­schen Montage, dem Schwelgen in Momenten der Destruk­tion und Selbst­ver­lo­ren­heit (da Aria mit einem Punk-Geliebten ihrer Mutter die heimische Wohnung aufmischt) durchaus noch an ihre Anfänge erinnert. Senti­men­tale Anwand­lungen meidend, auf Tragik mit Humor, auf Schönheit mit Bedacht entgeg­nend, überträgt sie Urper­sön­li­ches in eine unmiss­ver­s­tänd­lich persön­liche filmische Form.

Wenn eine Umarmung alles bedeutet

Regis­seurin Asia Argento wuchs als Kind von Giallo-Regisseur Salvatore Argento und Schau­spie­lerin Daria Nicolodi in den wilden 1980er Jahren in der High Society Roms auf und sollte bereits mit neun Jahren erstmals vor der Kamera in Erschei­nung treten. Mit ihrem dritten Regiewerk Miss­ver­standen begibt sie sich in einen eben solchen wohl­ha­benden Künst­ler­haus­halt im Jahre 1984 und erzählt aus dem Blick­winkel der neun­jäh­rigen Aria (Giulia Salerno) von der kind­li­chen Suche nach Halt und Gebor­gen­heit in einer herzlosen Erwach­se­nen­welt. Die Regis­seurin entwi­ckelte ihren bemer­kens­wert unsen­ti­men­talen Film dabei ausgehend von der Idee eines mit einem schweren Katz­en­käfig bepackten, einsam auf der Straße laufenden Mädchens, das beständig zwischen den Wohnungen seiner geschie­denen Eltern hin- und herpen­deln muss. Dabei erinnert dieses Bild des auf sich allein gestellten Kindes, das sowohl von Verzweif­lung und Einsam­keit als auch von losgelöster Freiheit kündet, nicht von ungefähr an François Truffauts Sie küßten und sie schlugen ihn.

Voller Esprit und mit großem Vers­tändnis für die Gedanken und Nöte eines Mädchens zeichnet der Film eine traurige Kindheit, in der die junge Prot­ago­nistin ohne eine wirkliche Vertrau­ens­person beständig von ihren egozen­tri­schen Eltern enttäuscht wird. Für diese stellt die intel­li­gente, selbst­be­wusste Tochter nur einen lästigen Stör­faktor dar, den man am besten zum Ex-Partner abschiebt. In den Wohnungen der beiden selbst­ver­liebten Künstler geht es zudem wild her: Es wird gefeiert, geflucht und auch mal eine Ohrfeige ausge­teilt. In dem chao­ti­schen Umfeld scheint die neun­jäh­rige Aria dabei unendlich einsam und verloren. Sie hat nicht einmal ein wirk­li­ches Zuhause, sondern wird immer nur als Gast in einem der beiden Haushalte geduldet, bevor sie wieder ihre Sachen packen muss. Obwohl Regis­seurin Asia Argentos biogra­phi­sche Züge tragender Film von einer verlo­renen Kindheit handelt, wird das frag­men­ta­ri­sche, sich aus Moment­auf­nahmen eines kind­li­chen Bewusst­seins zusam­men­setz­ende Geschehen dabei in kräftigen, manchmal über­trieben erschei­nenden Farben präsen­tiert. So zielt Argento in ihrem ästhe­ti­schen Konzept darauf ab, den Eindruck von im Laufe der Zeit farblich verfälschten Pola­ro­id­bil­dern einzu­fangen, um dem Film den Anstrich einer allmäh­lich verblas­senden Erin­ne­rung zu verleihen.

Die Leben von Arias berühmtem Schau­spie­ler­vater (Gabriel Garko) und ihrer als Pianistin arbei­tenden Mutter (Charlotte Gains­bourg) drehen sich beständig um sich selbst, doch trotz ihrer Gefühls­kälte himmelt Aria ihre Eltern an und nimmt sie nicht selten verklärt als schil­lernde Gestalten wahr. Dabei haben die beiden neuro­ti­schen Künst­ler­na­turen jeweils nur emotio­nalen Platz für eine Lieb­lings­tochter: Während der Vater die Erst­ge­bo­rene Lucrezia stets hofiert und ihr eine rosa­far­bene Kitschwelt erschafft, erscheint der Liebling der Mutter wie ein jüngeres Abbild ihrer selbst. Die schrift­stel­le­risch talen­tierte Aria muss hingegen immer hinten anstehen und für jedes Lächeln und jede Umarmung ihrer Eltern kämpfen. Dabei führt Arias unbän­diger Wunsch nach elter­li­cher Liebe und Anner­ken­nung dazu, dass sie durch ihr ewiges Aufmerk­sam­keits­streben von ihren Erzie­hungs­be­rech­tigten erst recht als Schwie­rig­keiten herauf­be­schwö­rendes, lästiges Problem­kind wahr­ge­nommen wird.

Die junge Haupt­dar­stel­lerin Giulia Salerno verkör­pert die einfalls­reiche Tochter, der letztlich nur die schwarze Katze, die ebenfalls niemand behei­maten will, als Freund und Wegge­fährte bleibt, mit großer Spiel­freude und Natür­lich­keit. Garko schießt derweil mit seiner Darstel­lung des schmierig-selbst­ver­liebten Vaters schon etwas über das Ziel hinaus und erscheint als Karikatur eines neuro­ti­schen Schön­lings, während Gains­bourg als herzlose, beständig mit sich selbst und ihren Männer­be­kannt­schaften beschäf­tigten Mutter überzeugt. Durch die perma­nente Ausnah­me­si­tua­tion in Arias Familie, sowie das Sozi­al­ver­halten ihrer Eltern, die nur Vorwürfe und Beschimp­fungen für einander übrig haben, gerät letztlich auch Arias Vorstel­lung von zwischen­mensch­li­chen Bezie­hungen und Liebe aus den Fugen. So beschwert sich ihre Freundin Angelica einmal, dass beim gemein­samen Spiel mit Ken und Baby, bei Aria die Beziehung der beiden immer in Gewalt und Verge­wal­ti­gung enden müsse.

Miss­ver­standen erweist sich als die filmische Erin­ne­rung an eine bewegte, harte Kindheit ohne elter­liche Fürsorge und Liebe, der die einfalls­reiche junge Prot­ago­nistin trotz aller Widrig­keiten mit ihrer erstaun­lich starken Persön­lich­keit und dem Bewusst­sein, dass sie irgend­wann auf diese traurige Zeit, wie auf ein verbli­chenes Foto zurück­bli­cken wird, tapfer entge­gen­tritt.

Punk und Zuckerwatte

Die Geschichte spielt 1984 in einer Familie, die mit dem Modewort »dysfunk­tional« nur unzu­rei­chend umschrieben ist. Die Haupt­figur namens Aria ist ein neun­jäh­riges Mädchen aus Rom, ihr Vater ein berühmter Film­schau­spieler, die Mutter Künst­lerin und Hippie, und jetzt kann sich jeder selbst überlegen, ob das etwa irgend­etwas mit der Regis­seurin Asia Argento und ihrer eigenen Biogra­phie zu tun hat? Argentos Vater jeden­falls ist der berühmte italie­ni­sche Horror-Kult-Regisseur Dario Argento, ihre Mutter Daria Nicolodi war Hippie und Schau­spie­lerin und Asia war 1984 neun Jahre alt, wuchs in Rom auf und heißt mit zweitem Vornamen Aria.

Diese Mutter wird im Film von Charlotte Gains­bourg gespielt. Ständig mit Drogen und Schnaps voll­ge­dröhnt, oft verreist und bald auch von diversen Lieb­ha­bern umgeben, ist sie zu verpeilt, um ihre Kinder gut zu erziehen.

Argento entwirft ein Kino-Traum­reich einer Kindheit, die von schlechten, eigen­süch­tigen Eltern geprägt ist, die sich nicht um ihre Kinder kümmern. Diese Kinder erscheinen immer ein bisschen schwebend, feenhaft, immer ein bisschen verloren, aber auch sehr frei, sehr altklug, und wenn es ihnen einmal schlecht geht, dann bewirkt ein kleiner Selbst­mord­ver­such Wunder. Aria ist ungemein phan­ta­sie­voll und begabt. Kein Wunder, dass sie in der Schule die besten Aufsätze schreibt. Sie hat auch eine beste Freundin, mit der sie sogar zusammen aufs Schulklo geht, »um gemeinsam zu kotzen«. Auch sonst wird man als Zuschauer Zeuge von allerlei Erleb­nissen aus »typischer« Mädchen­per­spek­tive. Und so schickt dieser Film seine Zuschauer selbst zurück auf eine Reise in die eigene Kindheit: Wer hätte nicht als Kind mal Spielchen gespielt, wie die Post von Nachbarn zu klauen und sie zu öffnen, oder Nachbarn anrufen und zur Polizei zu schicken? Auch eine Punk-inspi­rierte Verwüs­tung der elter­li­chen Wohnung sorgt für sehr schön insz­e­nierte, lustige Szenen.

Doch allmäh­lich schält sich hinter der gutge­launten, nost­al­gie­satten, von der Popkultur der frühen Achtziger Jahre geprägten Ober­fläche des Films die Geschichte eines unglück­li­chen Mädchens heraus, das sich am Schluss des Films vom Balkon stürzt, und wie Arthur Schnit­z­lers »Fräulein Else« in einem unklaren Zwischen­stock­werk zwischen Tod und Leben verbleibt.

Diese atemlose Fami­li­en­ge­schichte erinnert an den Plot aus Pia Marais' Die Uner­zo­genen. Der Stil des Films ist comi­cartig und zucker­wat­te­bunt und frag­men­tiert erzählt. Ein Dokument des Anar­chismus über eine Bohème, die die Selbst­kon­trolle verliert. Toll spielt die junge Giulia Salerno die Haupt­rolle des Kindes. Argento kann großartig Kinder insz­e­nieren und hat viel Sinn für Pop-Glamour und Musik. Ein unge­wöhn­li­cher Film und eines der besten italie­ni­schen Kinowerke seit langer Zeit.