Deutschland/CH/L 2023 · 142 min. · FSK: ab 16 Regie: Barbara Albert Drehbuch: Meike Hauck, Barbara Albert Kamera: Filip Zumbrunn Darsteller: Mala Emde, Max von der Groeben, Thomas Prenn, Liliane Amuat, Fabienne Elaine Hollwege u.a. |
»Helene liebte das Zählen. Es war aufregend und beruhigend. Wenn Helene zum Bäcker ging, zählte sie auf dem Hinweg die Vögel und auf dem Rückweg die Menschen, die ihr begegneten.« – Julia Franck, Die Mittagsfrau
Dass Julia Francks 2007 mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneter und auch im Ausland sehr erfolgreicher Gesellschafts- und Entwicklungsroman Die Mittagsfrau bislang noch nicht verfilmt wurde, grenzt fast schon an ein Wunder. Denn zum einen ist Francks asketische und doch bildreiche Sprache in kurze Kapitel gebündelt, die fast schon »szenen-fertig«, also filmreif sind. Und zum anderen erzählt Franck eine ungewöhnliche Geschichte, die auf der Lebenslinie ihres Vaters basiert, der so wie der siebenjährige Peter in Francks Roman wenige Monate nach Kriegsende 1945 von seiner Mutter auf einem Bahnsteig ausgesetzt wird. Doch das ist nur der Prolog, der in Alberts Verfilmung erst im letzten Teil eingeflochten wird. Erzählt der Roman und auch Alberts Film eigentlich die Lebensgeschichte von Peters Mutter Helene seit den 1920er Jahren.
Diese Mutter wird von Anfang an als geheimnisvolle, schwer zu dechiffrierende Frau gezeigt, die auch schon in jungen Jahren Verhaltensweisen aufweist, die nicht typisch, die gebrochen sind. Dieser Topos der geheimnisvollen Frau, den im Moment auch Terézia Mora in ihrem gerade erschienenen Roman Muna oder Die Hälfte des Lebens bedient, wird wie in Moras neuem Roman irgendwann mit der Gewalttätigkeit ihres männlichen Partners konfrontiert. Doch anders als bei Mora, wo die Gewalt etwas »Theoretisches«, nur Behauptetes hat, die Sprache die Gewalt gewissermaßen neutralisiert, ist das bei Franck und Alberts Umsetzung anders.
Das liegt in der filmischen Umsetzung nicht nur an Francks Vorgaben, sondern auch an der mit Mala Emde (303) hervorragend besetzten Helene, die ihr Jüdischsein und ihre schlafwandlerische Transformation zu einer »deutschen« Mutter mit einem überzeugten Nazi an der Seite so subtil ausspielt, dass einem das Erwachen aus ihrem somnambulen Zustand in einem realen Albtraum umso unheimlicher erscheint.
So wie Franck konzentriert sich auch Albert auf die komplexe und immer wieder überraschend dicht ausgearbeitete Hauptfigur der Helene, die vor allem durch eine zunehmende »Erblindung« ihres Herzens und eine Mutterschaft, die still Amok läuft, beeindruckt und mit ihrer zunehmenden Entfremdung von sich selbst fast schon gespenstisch korrespondiert. Diese Präzision hat allerdings auch einen Preis – fast alle Nebenfiguren, angefangen von einer auch im Film aufgesetzt irre erscheinenden Mutter, vor allem dann aber die Männer, wirken plakativ und holzschnittartig und ihre Dialogpartien dementsprechend hölzern, etwa Helenes zweiter Mann Wilhelm (Max von der Groeben), dem über seine Aussage: »Ich bin Soldat. Mir ist nichts menschliches fremd.« im Grunde alle weiteren Widersprüche in die Rolle gelegt werden, ohne dass es Zeit und Raum gebe, diesen Charakter auch wirklich zu entwickeln. Er wird wie fast alle anderen Charaktere nur behauptet.
Auch der historische Rahmen, die Attribute jedes abgehandelten Zeitabschnitts wirken überbetont und stilisiert. Seien es das nur allzu sehr an Babylon Berlin erinnernde Berlin der 1920er oder die fast schon aseptisch, kulissenhaft herausgeputzte Wohnung, in der Helene von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt wird und in großer – herzloser – Einsamkeit ihren Sohn großzieht.
Weil Helene in ihrem kalten Herzen im Grunde kaum eine Veränderung ihres Charakters widerfährt, scheint auch die Zeit in Buch und Film stillzustehen, scheint alles, was Helene fühlt wie in Watte gepackt, ist selbst Krieg und Gewalt irgendwie eine ferne Angelegenheit. Edo Reents störte sich nach Erscheinen des Romans eben genau an dieser Watte; Figuren, die nicht einfach »den Blick verweigern«, sondern ihn »scheuen«, nicht einfach »weinen«, sondern »Tränen ihren Augen entkommen«.
Diese Technik übernimmt Albert in ihrer Dramaturgie und Bildsprache allerdings nur in Ansätzen, verweigert sie sich zwar auch immer wieder dem konkreten Blick statt ihn auszustellen, gibt ihn dann aber für sehr grausame und beklemmende Momente frei, schafft fast ein Antipoden-Arsenal zu den Leerstellen und ist die Helene angetane Gewalt auch deshalb spürbar, weil sie anders als in Moras »Muna« Auswirkungen auf die Umgebung, die nächsten Menschen hat: den Sohn, den Mann und die wenigen Vertrauten, die Helene hat.
Deshalb ist Die Mittagsfrau, dessen titelgebende slawische Legende der Mittagsfrau übrigens kaum Relevanz erzeugt, am Ende dann doch sehr konkret und berührend, auch weil Albert in ihrer Adaption die leidige Mutterrolle des Romans noch einmal zentrierter in den historischen Raum wuchtet und damit das auch noch in heutigen Zeiten kaum auszutreibende Paradigma der »guten Mutter«, die Schuldgefühle hat, weil sie ihr Kind in den Kindergarten »abschiebt«, mit einer subtilen »Anti-Familiengeschichte« nicht nur hinterfragt, sondern ein Stück Zeitgeschichte aus einer femininen und im Kino selten gesehenen Perspektive völlig anders aufrollt, als wir es gemeinhin kennen, so wie das etwa auch Barbara Yelin in ihrer meisterlichen Graphic Novel Irmina gelungen ist.