Moleküle der Erinnerung – Venedig, wie es niemand kennt

Molecole

Italien 2020 · 71 min. · FSK: ab 0
Regie: Andrea Segre
Drehbuch:
Kamera: Matteo Calore, Andrea Segre
Schnitt: Chiara Russo
Filmszene »Moleküle der Erinnerung - Venedig, wie es niemand kennt«
Auf Papas Arm
(Foto: Film Kino Text)

Das Geheimnis einer Stadt

In seinem Dokumentarfilm Moleküle der Erinnerung erforscht Andrea Segre seine Beziehung zu Venedig und dem verstorbenen Vater. Das Ergebnis ist nicht durchgehend perfekt, jedoch eine interessante Auseinandersetzung

Es ist schon eine merk­wür­dige Situation, in der sich Venedig befindet. Die Stadt leidet an zwei großen Problemen, wie Andrea Segre in seinem doku­men­ta­ri­schen Essay Moleküle der Erin­ne­rung – Venedig, wie es niemand kennt aufzeigt: dem Hoch­wasser und dem Tourismus. Und beide sind untrennbar mit ihr verbunden. Bei einer Stadt, die auf dem Wasser gebaut ist, ist es natürlich unver­meid­lich, dass diese von ihm auch mal eingeholt wird, wie es 2019 geschah. Der Tourismus hingegen gehört zu den Haupt­ein­nah­me­quellen, macht die Vene­zianer aber zu Fremden in der eigenen Heimat, die zwischen den Menschen­massen keinen Hort der Ruhe mehr finden können. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie 2020 war es damit aber erst einmal auch vorbei. In genau dieser Zeit sitzt Segre in seiner ehema­ligen Heimat­stadt fest und fängt diese fast apoka­lyp­ti­sche Stimmung ein. Mehr noch als an Venedig ist der Regisseur jedoch an seinem verstor­benen Vater inter­es­siert. Die Monate des Still­stands nutzt er zur inneren Einkehr und sucht dort nach der verschüt­teten Beziehung zu diesem Mann, der ihm im Grunde genauso fremd blieb wie die Stadt.

In kaum mehr als einer Stunde will Andrea Segre (Vene­zia­ni­sche Freund­schaft) dem allen auf den Grund gehen: dem Vater, Venedig und in letzter Konse­quenz dem eigenen Platz. Die Gefahr ist groß, dass ein solches Projekt zur reinen Nabel­schau verkommt, doch Segre schafft es, den Blick schon recht früh auf mehr als die eigene Befind­lich­keit zu lenken. Mit Super-8-Aufnahmen erweckt er seinen Vater wieder zum Leben, den Physiker, Camus-Verehrer und eher schweig­samen Zeit­ge­nossen. Das Rätsel, das ihn umgibt, ist nicht nur für den Regisseur selbst inter­es­sant, sondern auch für die Zuschauer, die von der melan­cho­li­schen Stimmung mitge­rissen werden. Zunehmend stellt sich auch die Frage, was dem Erzähler eigent­lich fremder ist: sein Vater oder die Stadt? Und spielt das eine nicht in das andere mit hinein? Sein alter Herr war stets ein begeis­terter Liebhaber von Venedig, während er bereits im Kindes­alter sie und ihre Tradi­tionen nur als anstren­gend und laut empfand. Von der Verbun­den­heit zu diesem Mann zeugt jedoch die Faszi­na­tion für ein Foto der beiden aus der Kinder­zeit, das er immer wieder einblendet und das bereits eine mystische Dimension bekommen hat.

Rätsel­haft wird es auch, wenn es direkt um Venedig und seine Bewohner geht. Mit den Touristen und dem Hoch­wasser hat man nun zwei Aspekte, die das Leben dort eigent­lich vermiesen sollten, zudem ist es mit geringem Einkommen schwer bis unmöglich, hier zu überleben. Trotzdem wollen die Freunde und Bekannten, die er in Moleküle der Erin­ne­rung trifft, nicht weg, höchstens in ein anderes Stockwerk. Von Venedig scheint eine Macht auszu­gehen, die Segre bisher unver­ständ­lich war und die über das hinaus­geht, was man als Urlauber zu spüren glaubt. Gibt die Pandemie-Zeit davon einen Eindruck? Aus dem menschen­leeren Markus­platz spricht in der Tat etwas, das sich schwer fassen lässt – und es ist nicht einmal klar, ob es so positiv ist. In der pande­mi­schen Situation kommt das Fragile, das Venedig in sich trägt, stärker zum Vorschein als ohnehin schon. Ganz als wäre der Zerfall schon im Kern vorhanden. Hier zeigt sich auch die nächste Parallele zum Vater, der letzt­end­lich der Herz­krank­heit erlag, die ihn sein Leben lang beglei­tete.

Moleküle der Erin­ne­rung ist ein Film, der die Gedanken anregt, auch wenn er nicht an jeder Stelle faszi­niert. Viele Bilder entfalten doch nicht die Kraft, die ihnen inne­wohnen könnte, sondern bleiben auf einer Stufe mit den Aufnahmen, die man aus den Nach­richten kennt. Auch bekommt Andrea Segre seine Motive nicht immer so zu fassen, wie er es selbst gern hätte. Sie ziehen sich zwar deutlich durch seinen Film, jedoch scheint es, dass er sie selbst zu keiner Konklu­sion führen kann. Dabei ist natürlich die nächste Frage, ob das in ein paar Monaten und einer Stunde Film überhaupt möglich ist. Trotzdem funk­tio­niert Moleküle der Erin­ne­rung vor allem als gelun­gener Anreger eigener Reflexion und viel­leicht auch als Hilfe­stel­lung zur eigenen Innen­schau. Denn auch wenn es erst nicht so wirkt, in seiner Essenz ist er mehr als ein Film über eine der schönsten Städte Europas und den Vater des Regis­seurs – und auch mehr als ein Corona-Tagebuch.