Iran 2017 · 103 min. · FSK: ab 12 Regie: Vahid Jalilvand Drehbuch: Vahid Jalilvand, Ali Zarnegar Kamera: Morteza Poursamadi, Payman Shadmanfar Darsteller: Navid Mohammadzadeh, Hediyeh Tehrani, Amir Aghaee, Zakieh Behbahani, Saeed Dakh u.a. |
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Packend und fein inszeniert |
Schon die erste Szene ist ein starkes Sinnbild für die iranische Gesellschaft. Dr. Kaveh Nariman, ein distinguierter Mittfünfziger mit graumeliertem Haar und akkurat gestutztem Bart, ist mit seinem Mittelklassewagen unterwegs nach Hause. Es ist Nacht, auf der vielspurigen Autobahn ist, wie üblich in Teheran, viel Verkehr. Von hinten rast ein schnelleres Auto heran, ein Drängler mit aggressiver Lichthupe. Dr. Nariman weicht aus, wird aber vom Drängler derart geschnitten, dass er das Lenkrad verreißt und den Motorradfahrer neben ihm touchiert. Moosa, auf einem geliehenen Motorrad mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern unterwegs, stürzt. Das Motorrad ist kaputt. Der Drängler in der schnellen Limousine ist auf und davon. Besser lässt sich die iranische Klassengesellschaft kaum auf den Punkt bringen.
Der verantwortungsvolle Kaveh, ein Gerichtsmediziner, hält an der Unfallstelle und untersucht sogleich fachmännisch die Familie, insbesondere den achtjährigen Sohn Amir, der einige Schürfwunden davongetragen hat. Kaveh will selbstverständlich die Werkstattkosten übernehmen und die Familie zur Untersuchung ist nächstgelegene Krankenhaus bringen. Als Moosa vorschlägt, die Polizei zu rufen, um den Unfall aufzunehmen, wiegelt er jedoch recht hartnäckig ab. Moosa
hingegen will kein Geld annehmen. Erst als Kaveh ihm seine Geldtasche mit vielen Scheinen entgegenhält, nimmt Moosa vorsichtig zwei davon und fragt zugleich, ob das nicht zu viel sei.
Ob Arzt der Mittelschicht oder einfacher Mann aus der Unterschicht – beide sind durch und durch rechtschaffene und sympathische Charaktere.
Allerdings fährt Moosa, der zwischenzeitlich geschickt das Motorrad soweit wiederhergerichtet hat, dass es fahrtauglich ist, dann entgegen Kavehs Rat mit seiner Familie weiter in die dunkle Nacht, anstatt in die Straße zum Krankenhaus abzubiegen, um seinen Sohn untersuchen zu lassen.
Zwei Tage später wird der Leichnam von Amir in die Gerichtsmedizin eingeliefert, in der Kaveh in leitender Position arbeitet. Todesursache unklar. Kaveh macht sich Vorwürfe und verstrickt sich in der Folge immer mehr in Halbwahrheiten, Schuldgefühle und Selbstzweifel.
Eine moralische Entscheidung (der englische Titel NO TIME, NO SIGNATURE bleibt genauer am Originaltitel BEDOUNE TARIKH, BEDOUNE EMZA) ist der zweite Spielfilm von Regisseur,
Drehbuchautor und Editor Vahid Jalilvand. Ähnlich wie Asghar Farhadi absolvierte der 1976 geborene Jalilvand zunächst ein Theaterregiestudium. Von 1995 bis 2015 arbeitete er beim Nationalen Iranischen Radio und Fernsehen. Nach politischen Querelen kündigte er dort und arbeitet seither frei. Bereits sein erster Spielfilm WEDNESDAY, MAY 9 wurde beim Filmfestival in Venedig 2015
ausgezeichnet. Für Eine moralische Entscheidung erhielt er, ebenfalls in Venedig, 2017 den Preis für die beste Regie. Publikumsliebling Navid Mohammadzadeh wurde für seine Rolle des Moosa als bester Schauspieler ausgezeichnet. Zuvor waren beide bereits beim Fajr Film Festival prämiert worden. Bei der Deutschlandpremiere beim Filmfest Hamburg erhielt der Film die Auszeichnung als bester Film. Zudem wurde der Film als offizieller iranischer Beitrag für
die Kategorie des Besten fremdsprachigen Films für die OSCAR-Verleihung 2019 nominiert. Jetzt kommt das psychologische Drama endlich in die deutschen Kinos.
Im Mittelpunkt stehen zwei Paare; die Konstellationen spiegeln sich ineinander. Der Arzt Dr. Kaveh Narmina ist liiert mit seiner Kollegin Dr. Sayeh Behbahani. Aus nicht näher ausgeführten Gründen leben sie jedoch nicht miteinander. Morgens holt Kaveh Sayeh stets mit dem Auto zur Arbeit ab. Auf der anderen Seite steht das Ehepaar Moosa und Leila. Nach dem Tod des Sohns zeigt sich die Brüchigkeit der Beziehung: Leila will Moosa verlassen und die gemeinsame Tochter mitnehmen. Während sich die Frauen trotz der dramatischen Situation äußerst pragmatisch verhalten, verheddern sich die beiden Männer, bei allen Klassenunterschieden, immer mehr in ihren Schuldgefühlen, angeschlagenen Egos und überstarken Moral- und Ehrbegriffen.
Als der Leichnam des kleinen Amir in die Gerichtsmedizin eingeliefert wird, überlässt es Kaveh seiner Kollegin Sayeh, das Kind zu obduzieren. Sie stellt eine Lebensmittelvergiftung als Todesursache fest. Das Kind habe wohl bereits vor mehreren Tagen etwas Ungenießbares zu sich genommen. Der Tod war aufgrund der fortgeschrittenen Vergiftung unausweichlich.
Während Kaveh die Expertise seiner Kollegin in Zweifel zieht und später sogar eine Exhumierung des Toten und eine
zweite Obduktion veranlasst, um seine Hypothese des Kindstods aufgrund der Unfallfolgen zu verifizieren, plagt Moosa seinerseits das schlechte Gewissen. Er hatte für seine Familie billiges Hühnerfleisch gekauft. Dass es Gammelfleisch war und letztlich den Tod seines Kindes herbeiführte, quält ihn sehr.
Hühnerfleisch ist eines der wichtigsten Lebensmittel im Iran, gerade für die Unter- und Mittelschicht. Die Schärfe etwa der Sanktionen, wird oft daran bemessen, ob der Preis für Hühnerfleisch für die Durchschnittsbevölkerung noch erschwinglich ist. Bei der Produktion von Hühnerfleisch zählt der Iran zu den zehn größten Herstellern weltweit. Das meiste ist für den heimischen Konsum bestimmt: Mit 25 Kilogramm pro Jahr und Person ist der Verbrauch von Hühnerfleisch im Iran mehr als doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt.
Wenn sich Moosa für seine Familie kein Fleisch mehr leisten kann und daher zugreift, wenn ihm Billigware angeboten wird, ist das durchaus politisch zu verstehen. Auch, dass er vorzieht, mit seiner Familie endlich mal wieder Essen zu gehen, anstatt mit seinem Sohn die Ambulanz des Krankenhauses aufzusuchen. Auch der illegale Nebenverdienst des Schlachthausmitarbeiters, der das Gammelfleisch unter der Hand weiterverkauft hat, ist in diesem Zusammenhang von wirtschaftlicher Misslage und allgegenwärtiger Korruption zu sehen.
Derweil kann sich der korrekte Kaveh, unter seelischem Druck stehend, nicht zurückhalten und nutzt seine gesellschaftliche Stellung und berufliche Position aus. Mit Geld versucht er, die Unfallfolgen zu regeln. Sonst wäre herausgekommen, dass sein Versicherungsschutz schon lange ausgelaufen war und sein Auto wäre von der Polizei konfisziert worden. Als Gerichtsmediziner verschafft er sich Zugang sowohl zu polizeilichen Ermittlungen, als auch zu Moosa, der zwischenzeitlich in Untersuchungshaft sitzt, da er den Geflügelverkäufer im Streit geschlagen hat. Nach dem Handgemenge liegt dieser nun im Koma und Moosa ist des Totschlags verdächtig.
Eine moralische Entscheidung ist ein packendes, fein inszeniertes Drama um Fragen nach Moral und Ehre, Schuld und Verantwortung. Die Bilder bewegen sich überwiegend in entsättigten Grautönen – die Schnellstraßen, die Krankenhaussäle, das Gefängnis, das Schlachthaus. Das nuancierte Spiel der hochkarätigen Schauspieler entfaltet vor diesem Hintergrund umso ausdrucksstärker seine Wirkung. Am Ende bleiben der Zuschauer und die Zuschauerin mit allerlei offenen Fragen zurück. Wie halten wir es mit Schuld, Verantwortung und Empathie für das Los unserer Mitmenschen?
Der rücksichtlose Raser aus der Oberschicht bleibt aber von allem Elend unberührt weiter im Dunklen.