B/D/F 2009 · 139 min. · FSK: ab 12 Regie: Jaco van Dormael Drehbuch: Jaco van Dormael Kamera: Christophe Beaucarne Darsteller: Jared Leto, Diane Kruger, Sarah Polley, Linh-Dan Pham u.a. |
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Allemal sehenswert |
Es gibt im Abspann von Mr. Nobody nach der Besetzungsliste eine längere Aufzählung von Darstellern, bei denen sich der Regisseur bedankt und entschuldigt, weil die mit ihnen gedrehten Szenen nicht im fertigen Film enthalten sind. Sowas kann vorkommen im Filmgeschäft – aber hier ist es schon verblüffend, weil man sich fragt, wo in diesem übervollen, zweieinviertelstündigen Werk Jaco Van Dormael eigentlich je vor hatte, überhaupt noch ein geschätztes Dutzend mehr Figuren unterzubringen.
Es spricht außerdem dafür, dass der Film erst spät im Entstehungsprozess (s)eine finale Gestalt gefunden hat. Und man mag es als bestätigendes Indiz nehmen für das Gefühl, dass dies weniger die Findung der endgültigen Lösung eines komplexen Puzzles war als das Loslassen beim Erreichen eines halbwegs akzeptablen Kompromisses.
Wenn es Mr. Nobody an einer Sache nicht fehlt, dann an Ambition: Van Dormael (Toto le héros, Le huitième jour) hat hier zum ganz großen Rundumschlag angesetzt, wollte offensichtlich einmal alles, was er zum Leben, zur Liebe, zum Universum und dem ganzen Rest zu sagen hat, in ein Werk packen. Allein die Exposition braucht rund 20 Minuten, bis man eine vage Orientierung hat, um was es geht und wie das Ganze läuft. Es beginnt mit dem berühmten Experiment, bei dem Tauben in der Skinner-Box abergläubisch gemacht werden – ein schöner Einstieg, aber, schwupp, thematisch auch sofort wieder aus dem Film verschwunden. Dann kommen Quantenphysik, Zeitpfeil und Chaostheorie à la The Butterfly Effect hinzu, berührt man zig Zeitebenen und Leben. Bis sich irgendwann herausschält: Es geht um die Geschichte des (unglücklich bedeutungshubernd benannten) Nemo Nobody (ausgerechnet Jared Leto, der sich aber tapfer schlägt). Von der Geburt an über verschiedene mögliche Parallelwelten-Lebenswege bis in die Zukunft, wo er mit 118 Jahren der letzte natürlich sterbende Mensch ist.
Tonfall und Ästhetik des Films wechseln dabei so ungebändigt wie seine Themen – da ist von satirischer Farce über den Thriller bis zum großen Melo alles geboten; von Jean-Pierre Jeunet-Allüren bis Danny Boyle-Anleihen. Da schweben Fahrräder um den Mars und ungeborene Kinder in Wattewolken. Am ehesten einen Anker bietet noch die Liebe zu Anna (Diane Kruger), einer von drei möglichen Lebenspartnerinnen Nemos. Sie scheint das Schicksal als wahre Gefährtin auserkoren zu haben. Während Elise und Jean ihn auf unterschiedliche Weise unglücklich machen würden. Aber auch dieser dreifache Strang hat es schwer, sich aus dem wundersamen Knäuel von Ideen und Ansätzen zu winden. Gerade die Variante der unerfüllten Ehe mit Jean (Lin-Dan Pham) bleibt eine blasse, halbausgeführte Skizze – und die famose Sarah Polley darf nur das seelische Wrack, nicht den einst liebenswerten Menschen Elise, zeigen.
So wird Mr. Nobody – der Minute für Minute mehr zu gucken, fühlen, denken bietet als manch andere komplette anderthalb Kinostunden und deshalb allemal sehenswert ist – zu einem Paradox: Einer Addition, deren Ergebnis mit jedem hinzukommenden Summanden kleiner wird. Er hat genug Einfälle für vier, fünf großartige Filme. Aber nicht für EINEN wirklich gelungenen.
Man wird das tragische Gefühl nicht los, dass Van Dormael sich irgendwann besser dazu entschieden hätte, aus einem Drehbuch mehrere zu machen, die Geschichten und Themen zu separieren und portionieren. Das tut weh, weil man ja ungern gegen die großen, verrückten, normsprengenden Ambitionen redet; weil man ja auch lieber den einen großen Wurf sehen würde als die drei bescheidenen; Wagnis und Risiko in der Kunst wichtiger und richtiger findet als die Nummer Sicher.
Aber hier hat sich Van Dormael tatsächlich keinen Gefallen getan mit seinem Wunsch, alles hineinzupacken und dann noch ein bisschen mehr. Es heißt in Mr. Nobody einmal: Solange man sich nicht entscheidet, scheinen immer noch alle Möglichkeiten offen. Es geht in dem Film auch darum, dass dies ein Trugschluss ist. Was er dabei aber nicht realisiert hat ist, dass er mit dem Satz auch ziemlich genau sein eigenes Problem beschrieben hat.
Auf dem Filmfest München 2010 wird Mr. Nobody zu folgenden Terminen im Rio 1 gezeigt: Mi. 30.6. 18:30 und Do. 1.7. 21:00