Großbritannien 2019 · 112 min. · FSK: ab 6 Regie: Peter Cattaneo Drehbuch: Rosanne Flynn, Rachel Tunnard Kamera: Hubert Taczanowski Darsteller: Kristin Scott Thomas, Sharon Horgan, Greg Wise, Jason Flemyng, Emma Lowndes u.a. |
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Chor-Leitung unter Beschuss | ||
(Foto: Leonine) |
Um zu sehen, wie sehr England sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat, muss man gar nicht immer auf das große Brexit-Drama verweisen, die Filmografie eines Regisseurs wie Peter Cattaneo ist da vielleicht sogar viel aufschlussreicher. Denn wer erinnert sich nicht an einen der größten Erfolge des britischen Kinos, an Cattaneos The Full Monty aus dem Jahr 1997, der in Deutschland unter dem Titel Ganz oder gar nicht in die Kinos kam und bei Produktionskosten von 3,5 Mio. US-Dollar am Ende über 250 Mio. US-Dollar weltweit einspielte? Die tragikomische Bestandsaufnahme des wirtschaftlich versehrten englischen Nordens und seiner arbeitslosen Bewohner war einerseits klassisches englisches Sozialdrama, das Themen wie Arbeitslosigkeit, Depression, Impotenz, Homosexualität und Selbstmord verhandelte, auf der anderen Seite aber greller Slapstick, der gestandene Männer aus der englischen Arbeiterklasse zu einer Stripper-Formation erzog.
Nach einigen weniger erfolgreichen Filmen und etlichen Arbeiten fürs Fernsehen knüpft Cattaneo in Mrs. Taylor’s Singing Club (Originaltitel Military Wives) zumindest thematisch an seinen alten Erfolg an. Doch statt marginalisierter Arbeiter im Herzen Englands, wendet sich Cattaneo nun einer Gruppe marginalisierten Ehefrauen britischer Soldaten zu, die plötzlich vor Alltagsleere und Ängsten um ihre Männer stehen, als diese 2001 in Richtung Afghanistan aufbrechen. Im Zuge ihrer Selbstermächtigung versuchen sie es mit Singen. Zwar gibt es Konflikte durch Hierarchien und unterschiedliche Ansichten wie ein Chor zu leiten ist, Konflikte, die letztendlich auch militärische und gesellschaftliche Hierarchien widerspiegeln, doch diese werden selbstverständlich überwunden und die Frauen treten so wie die Männer in The Full Monty schließlich auch auf der großen Bühne auf.
Cattaneos Film nimmt sich damit der wahren Geschichte der Military Wives Choirs an an, verändert etliche Details und dramatisiert an den richtigen Stellen, ohne damit allerdings groß zu überraschen. Wer Cattaenos Full Monty gesehen hat oder Mark Hermans Brassed Off (1996), weiß, was emotional auf ihn zukommt, weiß, dass es sich trotz wohl dosierter Tragik letztendlich um eine klassische Wohlfühlkomödie handelt, in der sowohl gelacht als auch geweint werden darf.
Interessant wird Cattaneos Film tatsächlich erst im Vergleich mit den alten Klassikern, die damals weltweit auch deswegen überraschten, weil sie nicht nur zum Lachen animierten, sondern in ihrer kritischen Attitüde bis ins Herz britischer Selbstverständlichkeit vorstießen und letztendlich einen gesellschaftlichen Wandel provozierten.
Mrs. Taylor’s Singing Club hingegen wendet sich zwar auch einer marginalisierten Gruppe von Menschen zu, ist aber im Herzen zutiefst konservativ. Von den hier ganz klassisch reproduzierten Beziehungsmodellen gar nicht zu sprechen ist es vielmehr die politische Selbstdarstellung, die hier überrascht. Oder auch nicht überrascht. Denn wie nicht anders zu erwarten, spiegelt auch Gattaneos Film nicht anders als die kürzlich erschienenen David Copperfield oder Love Sarah die gegenwärtige britische Isolationspolitik nur allzu gut wider, sehen wir hier allerdings England als die globale Macht, die es nicht mehr ist, ein Empire, in dem Soldaten gute Menschen sind, die Frauen haben, die sie mit allen Mitteln unterstützen und die sie durch ihren Gesang dann auch noch stolz machen. Und die geschundene britische Seele sowieso. Damit ist Mrs. Taylor’s Singing Club fast so etwas wie ein kleiner, feiner Propagandafilm geworden, und innerhalb der Filmografie von Peter Cattaneo die vielleicht größtmögliche Abkehr vom Frühwerk.