USA 2003 · 137 min. · FSK: ab 16 Regie: Clint Eastwood Drehbuch: Brian Helgeland Kamera: Tom Stern Darsteller: Sean Penn, Tim Robbins, Kevin Bacon, Laurence Fishburne u.a. |
Der Mystic River mündet wie eine große, dunkle Kerbe bei Boston ins Meer. Könnten in ihm doch alle Schrecken und alle Verfehlungen der Vergangenheit davongetragen werden. Wenn in ihm das Grauen und der Schmerz einfach versänke. Vielleicht wäre es dann möglich, zu vergessen.
In einem irischen Stadtviertel Bostons schreiben drei Jungen ihre Namen in den noch feuchten Zement des Gehweges. Der letzte Name ist erst halbfertig, als ein Auto mit zwei Männern vor ihnen hält. Der eine trägt Handschellen und Polizeimarke am Gürtel und befiehlt dem unbeholfensten der Jungen, Dave, ins Auto zu steigen. Seine beiden Freunde Jimmi und Sean schauen dem Auto hinterher und begreifen zu spät. In Ausschnitten zeigen die Bilder einen Keller, in dem die Männer Dave gefangenhalten man kann nur ahnen, was sie dort mit ihm machen. Als Missbrauchter kann Dave Tage später fliehen und heimkehren. Doch ein Teil von ihm wird immer in diesem Keller gefangen bleiben und sein Leben unfertig, bevor es überhaupt begann. Ganz wie der halbe Name am Straßenrand.
Clint Eastwood schafft in vielen seiner Filme eine Erdung, die den Protagonisten tief in ihre Abgründe blicken lässt. Mystic River ist einer davon. Ein Film über das Erinnern und über eine Vergangenheit, die unvermittelt Zutritt zum Leben der Figuren verlangt. Zug um Zug müssen sie ihr Einlass gewähren und sich in Erinnerung rufen, was damals, in einem anderen Leben, am Straßenrand geschah. Nach 25 Jahren kreuzen sich ihre Wege zum ersten Mal wieder, als ein
weiteres schlimmes Verbrechen geschieht: Jimmy Markums Tochter Katie ist brutal ermordet worden.
Markum (Sean Penn), damals der Anführer der Drei, übernahm nach einem Gefängnisaufenthalt den Cornershop im Viertel und reduzierte seine kriminellen Aktivitäten, um Katie zu schützen. Ihr Tod erschüttert Jimmy aufs Tiefste, und müsste wider seine Natur handeln, würde er dieses Unrecht ungesühnt lassen. Auf polizeilicher Seite werden die Ermittlungen von Sean Devine (Kevin Bacon) und
seinem Partner Whitey Powers (Laurence Fishburne) geleitet. Devine ist der Dritte im Bunde, ein emotional verkappter Cop, den seine Frau verlassen hat und nun manchmal anruft, ohne ein Wort zu sagen. Dave Boyle (Tim Robbins), der Traumatisierte, ist verheiratet und klammert sich an den kleinen Sohn. Die Wunden der Kindheit haben sich eingebrannt in seinen Gang, seine Gestik. Auch gegen ihn muss Devine ermitteln, denn Dave war einer der letzten, der Katie lebend gesehen hatte. Celeste Boyle
(Marcia Gay Harden) kann ihren Verdacht ebenfalls nicht lange unterdrücken: Am Abend des Verbrechens kam ihr Ehemann mit blutverschmierten Kleidern nach Hause.
Eastwood stellt in Mystic River die Frage nach dem Wert von Moral und Gerechtigkeit. Doch eine Antwort gibt er nicht. Seine Figuren überschreiten im Namen von Selbstverteidigung und Loyalität die Grenzen der Gerechtigkeit. Die Dialektik des Ganzen besteht darin, dass sie nach Gerechtigkeit streben und überzeugt sind, das Richtige zu tun. Doch durch ihre Unfähigkeit zur Kommunikation schaffen sie es nicht, dem Leid Paroli zu bieten; Brüder, Eheleute und
Freunde können sich einander nicht erklären. Auf diese Weise wird eine im Kern simple Whodunit-Story zur diffizilen Tragödie: Sie kreist ihre Figuren immer weiter ein, bis dieser eine grausame Ausgang, der sich lange ankündigte, unvermeidbar wird. Vergangenes drängt zurück ins Bewusstsein, und im Versuch, das Verbrechen aufzuklären, werden weitere begangen. Es ist ein Kreislauf, bei dem schließlich der Mystic River zur dunklen und doppelbödigen Endstation wird.
Rahmengebend sind
Seans Ermittlungen zu dem Mordfall, doch genauso wird die Geschichte an den Fronten der beiden anderen, Jimmy und Cave, vorangetrieben. Es ist wiedereinmal erstaunlich, wie sicher und zwingend Eastwood klassische Dramaturgie zum Einsatz bringt. Er schickt seine dramatis personae auf die Reise und lässt sie am Ende des Films auch an ein Ziel kommen. Konflikte werden zugespizt und Entscheidungen müssen getroffen werden. Mystic River ist eine Tragödie und in diesem
Sinne noch viel klassischer als die meisten anderen Filme Eastwoods. Inszenatorische Hakenschlagerei oder visuelle Mätzchen lägen dem Regisseur Eastwood fern, zu sehr ist er selbst Schauspieler, als dass er durch solche Kunstgriffe die Kraft seiner Figuren geschmälert sehen wollte. Und die hochkarätige Besetzung, die Eastwood hier zusammengetrommelt hat, verleiht dieser Männergeschichte große Authentizität.
Am Ende des Films wird eine Straßenparade zum
entmystifizierten Treffpunkt aller Parteien. Unter freiem Himmel liegen für einen Moment alle Geheimnisse des Mystic River offen. An den beiden Straßenseiten der Parade, getrennt von Umzugswagen und einer Blaskapelle, versammeln sich die Charaktere. Blicke können ausgetauscht, Entdeckungen gemacht werden, und die Parade tüncht alles in ein befriedendes Licht. Doch vorbei ist der Schrecken nicht. Länger als gewöhnlich ist die Halbwertzeit dieses Eastwood-Films, mehr
Unklarheiten werden unbereinigt ins Ende geschmuggelt. Die Gischt der Straßenparade überspült vorerst die Sorgen einiger, wird zu einem Ersatzfluss. Andere jedoch realisieren erst hier, welche Unglücke der wahre Fluss, der Mystic, hinforttragen soll.
Vom ersten Augenblick atmen die Bilder Unheil. Blauschwarz ist das Wasser über das die Kamera gleitet, und wir spüren, der Mystic River, der dem Film seinen Titel gibt, heißt diesmal Lethe, der Todesfluß der antiken Tragödie. Dieser Eindruck liegt nicht daran, dass man weiß, dass Clint Eastwood, Schauspieler und seit 20 Jahren zunehmend Regisseur, gerne Thriller und Kriminalstories dreht. Und in gewisser Weise ist Mystic River auch keineswegs ein Krimi, auch wenn hier ein Mord und die Entlarvung des Mörders den äußeren Handlungsrahmen bilden. Das Unheil liegt vielmehr in allem, was die Kamera zeigt, noch in ihren leisesten Bewegungen, ihren verstohlenen Blicken, mit denen sie weniger bestimmte Dinge als eine Atmosphäre erhascht ein kleines Bisschen zu lange hinschaut, und dadurch beunruhigt, darauf hinweist, dass sie etwas darstellt, das nicht zu sehen ist.
Diese Kunst der Darstellung des Unsichtbaren in einem Medium, das scheinbar ganz aus Sichtbarkeit besteht, beherrscht Eastwood perfekt. Er hat auch eine sichere Hand in der Wahl der Schauspieler, die er für seine Art zu erzählen braucht. Kevin Bacon, Tim Robbins und Sean Penn sind gleich gut. Gerade im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Darsteller setzt sich die Verschiedenheit ihrer Figuren in kleine Gesten, Blicke, verschiedene Formen der Präsenz um. Und so zeigt Mystic River einmal mehr, dass Eastwood inzwischen einer ist, dessen Filme seine eigenen Interessen, Passionen und Ideen wiederspiegeln, ein Autorenfilmer – kein Wunder, dass man ihn gerade in Frankreich so schätzt.
Drei Tode gibt es in diesem Film. Ganz früh stirbt die Seele eines Jungen, und wenn es später auch seinen Körper trifft, ist dies nicht weniger schlimm, aber auch eine Erlösung. Den dritten Tod erleidet eine Unschuldige, und weil er doch mehr ist, als nur eine dramaturgische Notwendigkeit, ist genau dessen Sinnlosigkeit sein einziger Sinn.
Eine einzige Sekunde, damit beginnt der Film, kann ein Leben verändern. Drei Freunde spielen auf der Straße, man ist in Boston, im auf seine
Art streng-katholischen Milieu der irischen Working-Class. Einer der Jungen wird entführt, kommt nach langen Qualen zwar wieder frei, doch das Dreieck der drei Freunde ist seither aus dem Gleichgewicht gebracht. Das zeigt sich, als Jahrzehnte später – die drei leben weiterhin im selben Viertel, haben kleinere Aufstiege geschafft, ohne sich aus ihrer Herkunft gelöst zu haben – die Tochter von Jimmy (Penn) verschwindet. Bald wissen wir, dass sie ermordet wurde, und Sean (Bacon),
der es zum Kommissar gebracht hat, ermittelt in dem Fall. Schnell führen ihn Spuren zu Dave (Robbins), dem, der einst als Junge entführt wurde.
Im Folgenden entwickelt sich eine komplexe, tiefe, äußerst doppeldeutige Geschichte, in der Eastwood sein lebenslanges Thema der außergesetzlichen Gerechtigkeit (das schon seine Rollen als Dirty Harry kennzeichnete) einmal mehr entfaltet. Sie handelt
von lebenslangen Verbindungen zwischen Freunden, Schicksalsschlägen und der moralische Abrechnung, die ihnen folgt. Eastwood wirft einen dunklen, beunruhigend-verstörenden Blick auf die menschliche Natur, die, so legt er nahe, der immer neuen Verstrickung in Gewalt und Verbrechen, Schuld und Sühne nicht entkommen kann. Auf der Höhe seiner Regiekunst erinnert der Film an Unforgiven oder
A Perfect World, erst recht in dem Höhepunkt, zu dem er sich im Schlussakt steigert, in den schreckliche Ironien, die ganz an seinem Ende stehen.
Von Minute zu Minute wird die Atmosphäre dichter, das Drama intensiver, und wenn am Schluß ein Ergebnis steht, das man befriedigend kaum nennen kann, moralisch nur in einem recht verzerrten Verständnis von Gerechtigkeit, dann ist dies trotzdem eine Katharsis, ein Gewitter, das nicht reinigt und nicht erlöst, aber
doch erfrischt. In listiger Weise und in stellenweise betörenden Bildern (Kamera: Tom Stern) handelt dieser Film damit zwar auch von Liebe, Freundschaft und Verrat, vor allem aber von der Brutalität unter der Oberfläche westlicher Gesellschaften und vom Umgang mit ihr. Der Befund ist tief pessimistisch, aber auch – hier bleibt Eastwood auch diesmal ein Konservativer – voller Fatalismus. Der Mensch ist aus krummem Holz geschnitzt, behauptet er, jede Gemeinschaft auf
bluttriefendem Grund errichtet. Und auch die geschlossene Gesellschaft von Boston ist eine solche, durch Blut zusammengefügte Community. Das moralische Dilemma zeichnet er am deutlichsten in der Figur des Jimmy: Ein liebender Vater, voller Gefühl und Verständnis für seine Kinder. Er ahnt den Tod seiner Ältesten, »A father knows« sagt er der Polizei, als sie ihn verhören. Und später tötet er kaltblütig, rasend, von Sinnen, bewusst, eine umgedrehte, schwarze, männliche Antigone, für
die auch es Gerechtigkeit manchmal nur jenseits der Mauern, der Legalität geben kann. Womit sie von einem Rachegott nicht zu unterscheiden ist. Jimmy/Penn schreit und weint, stürzt durch Strassen und Menschenmengen, schlägt sich mit Polizisten und trinkt sich um Verstand und Sinne, ist eiskalt in seinem heißen Haß auf den Mörder. Mystic River ist ein Film, der stumme rächende Väter zeigt, Männer die weinen und Mütter, die ihre Männer antreiben, zu tun, was zu tun
ist. In Film, in dem viel gebeichtet und verhört, gestanden und verschwiegen wird. Ein Film, in dem die Bösen als Werwölfe erscheinen, was es leichter macht, ie töten und danach weiterzuleben; leichter, aber nicht ehrlicher.
In den letzten Bildern des Films sehen wir dann eine bunte Parade auf der Hauptstraße des Viertels. Am Straßenrand steht Jimmy, der Ladenbesitzer, dem die Tochter getötet wurde, und der seinen Freund Dave wegen einer Tat umgebracht hat, die er nicht begangen hat, Marcia Gay Harden als die Frau des Opfers, die ihren Mann ans Messer lieferte und Sean, der Kommissar, der das alles weiß und trotzdem nichts unternehmen wird. Rundherum ist das Meer der US-Flaggen unübersehbar. So wie der Gedanke, dass der Regisseur uns auch etwas darüber erzählen will, wie amerikanische Gerechtigkeit aussieht, blutbefleckt, außergesetzlich.