Deutschland 2007 · 95 min. · FSK: ab 6 Regie: Angela Schanelec Drehbuch: Angela Schanelec Kamera: Reinhold Vorschneider Darsteller: Miriam Horwitz, Angela Schanelec, Jirka Zett, Fritz Schediwy u.a. |
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Miriam Horwitz, das Mädchen, die Möwe |
Ein Haus am See. Es ist Sommer. Menschen, die sich schon lange nicht mehr gesehen haben, treffen aufeinander. Irene, die Theaterschauspielerin, besucht ihren kranken Bruder, der mit ihrem Sohn Konstantin am See wohnt. Konstantin schreibt Stücke fürs Theater, ist dabei wenig erfolgreich, aber das einzige, was ihn antreibt, ist trotz allem das Schreiben. Er hat Besuch bekommen von seiner Freundin Agnes, die mittlerweile in der nahe gelegenen Stadt studiert und ihm zusetzt mit ihrem Rede- und Liebesbedürfnis. Dann kommt noch Irenes Freund Max in das Haus nach; wie Konstantin schreibt er Stücke fürs Theater, nur ist er ein erfolgreicher Autor. Max freundet sich mit Agnes an, die verloren in dem Haus herumstreicht.
Schanelec hat das Drehbuch zu Nachmittag in Anlehnung an Tschechows Theaterstück Die Möwe geschrieben. Anklänge an das Theater gibt es in ihrem Film allemal: Der oben skizzierte Plot liest sich wie die Ausgangssituation zu einer Theaterhandlung, die Berufe der Figuren verbinden sich mit der Welt der Bühne, und der Film hebt an mit einer Probe im Theater. Das Vorzeichen, das Nachmittag mit diesem Auftakt gegeben wird, ist trügerisch und signalhaft zugleich: Trügerisch, weil sich der Film nach dieser ersten Szene vom Bühnenraum abwendet, um fortan in das ländliche Setting am See einzutauchen; signalhaft, weil er vorgibt, womit man es im weiteren zu tun hat: weniger mit Personen, die sich entlang einer Handlung verhalten, als mit Figuren, die als Konstellation in dem Haus am See aufeinandertreffen, und deren Handlungen vor allem Sprachhandlungen, also Akte des Sagens und weniger des Tuns sind. Die letztlich dramatisch verlaufende Möwen-Handlung hat Schanelec zu Andeutungen reduziert und sich ganz auf das konzentriert, was auch Tschechows Stück schon charakterisierte: Sie bettet die Figuren in die Atmosphäre unterschiedlicher Stimmlagen, die sich während des Films fortwährend miterzählt und die die Schönheit und Faszination des Films ausmacht.
Andeutungen an Tschechows Möwe gab es schon in Schanelecs letztem Film Marseille, durch die Schreie der Möwen im Hafen und durch die Erwähnung einer Rolle in Tschechows Stück, die eine der Hauptfiguren gespielt hatte. Während Marseille jedoch auseinanderfiel, durch die Episoden mit ihren zwei Städten und dem Perspektivwechsel auf verschiedene Figuren, kondensiert Schanelec in Nachmittag die Handlung auf die Abfolge von drei Nachmittagen und auf den Schauplatz des Hauses mit Seeblick. Diese Konzentration tut ihrem Film gut. Bei aller Künstlichkeit, die auch diesmal wieder Schanelecs Film anhaftet, gleitet man in dem beengten Universum und mit den aufeinander angewiesenen Figuren immer mehr in die Geschichte hinein. Dies geschieht fast unmerklich und trotz der sehr losen Figurenkonstellation, die mehr durch ein Auseinanderfallen als durch Zusammenhalt gekennzeichnet ist. Die Handlung ergibt sich wie von selbst durch das Verschieben der Stimmungen und Gewichtungen innerhalb des umgrenzten Figurengefüges. Kaum dass wirklich etwas passieren würde in diesen drei Nachmittagen im Sommer.
Es gibt dennoch Geschehnisse. Sogar höchstdramatische, wie der Suizidversuch des Sohnes. In einer Blitzaktion kommt die Mutter dazwischen, entwendet ihm das Messer, mit dem er sich gerade die Pulsadern aufschlitzen wollte und trägt selbst eine Schnittwunde davon. Ein Geschehnis, das die Figuren kurz in ihrer nachmittäglichen Trägheit aufzucken lässt, das aber letztlich folgenlos bleibt und dessen blutige Spuren unverzüglich mit den Worten Wir haben Besuch! beseitigt werden. Das, was in dem Haus wirklich passiert, ist eher das, was man nicht sieht, was man nur erspüren kann, was sich erahnen lässt und sich in Stimmungen mitteilt. So das unerfüllte Begehren von Agnes in der schwülen Aufgeladenheit am Ende eines Sommertages, dann die wahrscheinliche Zusammenkunft des Mädchens mit dem Freund der Mutter, während die anderen in der nahen Stadt zum Eisessen sind (was aber nicht gezeigt wird, sondern nur plausibel erscheint und suggeriert wird durch die eindeutigen Blicke, mit denen der Schriftsteller Agnes taxiert). Die plötzliche Abreise von Agnes ist ein weiteres folgenreiches Ereignis, das unsichtbar bleibt und sich nur durch die Leere mitteilt, die ihr frei gewordener Platz innerhalb des Figurengefüges hinterlässt. Eine Leere, die wiederum mehr das Fehlen einer Tonalität in einem mehrstimmigen Kammerstück bedeutet als das Vermissen eines Charakters, der für eine gewisse Handlungseinheit steht.
Nachmittag erzählt, indem die Dominanten innerhalb des Figurengefüges verschoben werden und mit ihnen die Stimmungen und Tonlagen. Am Eindrucksvollsten ist in diesem Zusammenhang das kontrastvolle Gegenüber der Mutter und der Freundin des Sohnes, von Irene (Angela Schanelec) und Agnes (Miriam Horwitz). Schanelec verkörpert die Rolle der Mutter, die versucht, zu ihrem erwachsenen Sohn Kontakt aufzunehmen, mit hagerer und strenger Verhaltenheit, und tritt damit an gegen die beginnende, sehr fleischliche und noch etwas tapsige Weiblichkeit des jungen Mädchens. Die Lebendigkeit und Natürlichkeit von Agnes, die sich geradeheraus artikuliert, verlässt mit ihrer Abreise den Film, und zurück bleibt mit Irene, die nicht an ihren Sohn herankommt, eine Atmosphäre des Schweigens, aneinander Vorbeiblickens und Verkennens.
Wie auch in Marseille charakterisieren sich in Nachmittag die Kameraeinstellungen durch Distanz und Nähe zu den Figuren, wobei die anfänglichen Totalen allerdings bald von den Close-Ups auf die Figuren abgelöst werden. Sie rücken unter der Kameraführung von Reinhold Vorschneider das Set soweit an den Rand des Bildes, dass die Umgebung und mit ihr die dingliche
Welt ausgeblendet wird. Die Figuren sind oft aus dem Off zu hören, aus dem Teil der Einstellung heraus, in dem sie gerade nicht zu sehen sind. Mit einem späten Kameraschwenk werden sie dann, noch während sie sprechen, ins On geholt, ein stilistisches Merkmal für Schanelecs Umgang mit Dialogen, der die Figuren so aus den Szenen ein- und ausblendet, dass sie vor ihrem eigenen Sprechen in den Hintergrund treten.
Und dann gibt es noch die Momente, in denen in Großaufnahme die Kamera
auf eine Figur draufhält, sie lange in ihrem Fokus fixiert, ganz als könne sie sich selbst nicht entkommen. Unter diesem konzentrierten Blick entleeren sich die Figuren in monologischen Ausbrüchen, kehren ihr Innerstes nach Außen, geben Auskunft über Enttäuschungen und Hoffnungen, über Lust und Abstoßung. Diese Filmsprache der Intimität, in der die Kamera dicht an die Figuren heranrückt, verleiht den sonst auf Distanz gehaltenen Figuren Tiefe und Wahrhaftigkeit. Sie ist weder
peinlich noch psychologisch, was sich der hochgradig geformten Sprache verdankt, die in ihrem Duktus jegliche Anklänge an Authentizität vermeidet. Mit ihrer Schriftsprache, in der sich die Menschen artikulieren, gehen sie im Schanelecschen Universum wie auf Stelzen durchs Leben etwas hölzern und steif, jedes Wort wird mit Bedacht gewähltund dennoch zeigen sie eine große und beglückende Virtuosität, wenn sie auf hohem Niveau mit den Worten herausplatzen.
Die Künstlichkeit von Geschichte und Sprache rückt Schanelecs Nachmittag eher an Jean-Luc Godards Nouvelle Vague heran als an das deutsche, wie Schanelecs Film der Berliner Schule entstammende Gegenstück Ferien ihres Regie-Kollegen Thomas Arslan. Das Godardsche Haus am Genfer See mit den unterkühlten und gestylten Figuren, den beinahe undurchschaubaren Figurenzusammenhängen und dem Sprechen in Zitaten ist Schanelec viel näher als Arslans gleichfalls atmosphärische Sicht auf den Zerfall einer berlinisch geprägten Familie in ihrem Ferienhaus in der Uckermark. Der Sommer alimentiert sich bei Schanelec durch die Nähe des Sees und zeigt sich in den kühlenden Farben von Grün und Blau, während bei Arslan der Sommer zu verdursten schien, die Trockenheit den Farben ihren Saft entzogen hatte, und der Wind an den fahlen Baumkronen rüttelte. Auch bei Schanelec fährt der Wind oft durchs Blätterwerk; es ist ein volles Rauschen, gesättigt und etwas müde, aber von einer gleichmäßigen Unaufgeregtheit wie die Menschen an einem Sommernachmittag.
Rot, Grün, Blau sind die Grundfarben. Sommerlicht durchzieht die Bilder, Sommerstimmung prägt den Film – nicht allerdings die Gemüter der Menschen. Sie sind beherrscht durch Kummer, Angestrengtheit, Liebesqualen.
Alles beginnt auf einer Theaterbühne. Der schwere Theater-Vorhang öffnet sich, man blickt von hinten über die Bühne und offenbar eine Probe der Schauspieler in den fast leeren Zuschauerraum. Ein Verweis auf die Theaterhaftigkeit und Künstlichkeit des ganzen folgenden Geschehens? Auch auf die Verdrehtheit des Blicks, der entgegengesetzt zur üblichen Blickrichtung sozusagen »verkehrtherum«, jedenfalls anders blickt? Jedenfalls ganz naturalistisch das Zeigen einer der Hauptfiguren in ihrer Arbeitswelt – denn sie ist Schauspielerin. Oder etwa gar eine ironische Selbstflexion? Denn diese Schauspielerin wird von Regisseurin Angela Schanelec selbst dargestellt, die einst Schauspielerin war, und die als Regisseurin weißgott und unverdient wenig Zuschauer hat.
Dass man über all das überhaupt nachdenkt, zeigt Stärken wie Schwächen dieses Films ganz gut. Nein, es ist jetzt nicht gemeint, dass man bereits im Kino dazu Zeit hat, obwohl das allerdings stimmt, und man sich in diesem Film mehr als einmal dabei ertappt, dass die eigenen Gedanken abschweifen, auf solche grundsätzlichen Fragen, ebenso wie auf die Banalitäten des eigenen Alltags.
Schnitt: Ein See, Vogelzwitschern. Schnitt: Close-up auf einen Mann, im Gespräch mit einem Jungen, den wir nicht sehen, nur hören. Die Kamera schwenkt nach links, leicht herunter, auf seinen Kopf, seitlich von hinten. Die Kamera ist ruhig, aber nicht starr.
Im Folgenden lernt man, in ruhigen, präzis gewählten, zeigenden, nicht erzählenden Bildern, eine Familie kennen. Wohlhabendes Bürgertum, Wohngegend, altes Pflaster, Bäume, ein Haus an einem See, wie es aussieht auf dem Land bei Berlin. Im Haus ein Junge, und der Alte von vorhin. Sie spielen Uno. »Na Brüderchen? Kann ich mitspielen.« Ein Bootssteg, ein paar Kinder auf einem Ponton, ruhige Blicke auf Gesichter; Schwenks auf ein anderes Gesicht, in gleicher Höhe; Großaufnahmen und Halbtotalen bei sparsamen Dialogen.
Zum Beispiel: »Woran glaubst Du?« – »An einzelne Momente. Es ist leichter, wenn man bescheiden ist.« – »Findest Du, ich verlange zuviel? Verstehst Du mich?«
Portraits von Seelenzuständen zwischen Depression und Hysterie. Die Tonspur ist wichtig. Denn durch das Ohr dringt die äußere Welt in dieses Reich narzisstischer Gespenster ein. Die Sprache wirkt in all ihrer Künstlichkeit recht »gesprochen« und durchaus zeitgemäß. Einzelne Sätze verweisen auf das, was kommen wird:
»Gestern Nacht konnte ich ewig nicht einschlafen.« »Ich habe Dich verloren.« »Es ist nur eine große Müdigkeit und Du bist wie ein Stein darin, es ist so langweilig.«
Man muss das so ruhig und technisch präzis erzählen, um die Ruhe dieses Films erahnen zu lassen, um eine Vorstellung von Nachmittag zu geben. Schanelecs Bilder sind wie Gemälde; sie ruhen in sich selbst, sie wollen lange angeschaut werden, und sie geben dem Betrachter dazu die Zeit. Sie sind allerdings nicht von der Art, dass man in ihnen dann plötzlich, vielleicht am Bildrand wie in alter niederländischer Malerei, noch etwas entdeckte, das die ganze
Betrachtung veränderte.
Schanelecs Bilder öffnen sich nicht, sie blicken nicht zurück zum Betrachter. Sie erklären sich nicht, bleiben spröde und schwer zugänglich. Warum zeigt man die Körper so abgeschnitten? Nur mal eine Frage. Sollen wir Kritiker das erklären? Es mag sein, dass all das, wie die Regisseurin mitteilt, auch »in Anlehnung an« Tschechows 'Möwe' konzipiert wurde. Aber woher weiß ich das, wenn ich es nicht schon weiß. Und was nutzt mir dieses Wissen? Das sind eben so
Dinge, die stehen im Presseheft, oder die Regisseurin sagt es im Interview. Dann schreiben es alle ab.
Manchmal ist alles sehr gestelzt. Es nervt, und man hat den Eindruck, es will auch nerven. Etwas unglaublich Angestrengtes, auch Affektiertes, mitunter – pardon – Arrogantes durchzieht den Film. Natürlich: Man denkt an den Philosophen, der geschrieben hat: »Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht.« In diesem Sinn ist Schanelec in wunderbarer Weise
unumgänglich, und darum bleibt man auch auf ihre Filme gespannt. Aber wie in dem Zitat lauert erst recht in der Bleischwere und der breitgetretenen Todessehnsucht dieses Films ein verstecktes, schwer erträgliches Pathos. Man möchte Nachmittag mehr mögen, man möchte diesen Film und seine Regisseurin inniger verteidigen, und weiß doch nicht recht, wie. Loyalität und Sympathie sind das eine, das andere ist Ehrlichkeit. Man muss es auch einmal so hinschreiben,
wie man es empfindet, wenn man im Kino sitzt.
Aber immerhin: Schanelecs Bilder zeigen ihre eigene Ohnmacht, zeigen eine der möglichen Grenzen des Erzählens in Bildern; sie sind durchzogen von Misstrauen gegen sich selbst. Das ist seltsam, und man möchte nicht nur noch Filme sehen, wie diesen. Aber es ist eine bereichernde, in vieler Hinsicht klärende Erfahrung.