Deutschland 2015 · 92 min. · FSK: ab 12 Regie: Akiz Drehbuch: Akiz Kamera: Clemens Baumeister Darsteller: Carolyn Genzkow, Wilson Gonzalez Ochsenknecht, Sina Tkotsch, Alexander Scheer, Kim Gordon u.a. |
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Bemerkenswerter Film über ein Lebensgefühl |
Nachts beginnt der Spuk: Eine Party, wie jeden Samstag für Tina. Tanzen, Trinken, Drogen und Jungs. Nicht außergewöhnlich und gar nicht so exzessiv. Aber die Nacht ist der 17-jährigen vertrauter, sie scheint ein tröstenderer Zustand als der Tag mit seiner Ordnung und seinen Forderungen. Die Nacht lässt geschehen, sie macht alle gleich.
Doch plötzlich wird sie anders, plötzlich passiert etwas: Am Abend einer schon fortgeschrittenen Party, irgendwo am Rand der Stadt, in einem von Wald umgebenen Garten entdeckt Tina ein Wesen, das ihr von nun an nicht mehr wirklich von der Seite weicht.
Es ist klein, hat nackte, gräuliche Haut, keine Haare, aber große Ohren und Augen. Es wirkt nicht richtig bedrohlich, aber Vertrauen erweckt es auch nicht gerade – entfernt ähnelt es einem berühmten Bild von Johann Heinrich Füssli: »Der Nachtalb«, das von anderen Künstlern variiert wurde, und das bereits Ken Russell 1986 in seinem großartigen schwarzromantischen Period-Drama Gothic inspiriert hat.
Zuerst reagiert sie mit reiner Panik. Doch irgendwann gewöhnt sie sich an die merkwürdige Kreatur, und schöpft Vertrauen. Zumal sie dauernd auftaucht, an den merkwürdigsten, unerwartetsten Plätzen. Zum Beispiel im Kühlschrank des Elternhauses.
Dumm nur: Niemand außer Tina sieht dieses Wesen. Also muss sie wohl verrückt sein, oder?
Man kann das so sehen, und wer eine rationalistische Erklärung bevorzugt, vielleicht beruhigender findet, der wird sagen: Vielleicht hat Tina auf der Party die falschen Drogen eingeworfen und kommt von ihrem Trip nicht mehr runter. Oder hat sie Liebeskummer? Abistress? Andere Probleme?
Ihre Freunde gehen auf Distanz, die Eltern verordnen ihr eine Psychotherapie – doch gerade der Therapeut legt Tina nahe, sich auf den Nachtmahr einzulassen.
Dieser Film ist eine Achterbahnfahrt: Sie führt durch die Techno-Clubcultur von Berlin und Umgebung hinein in die Psyche eines jungen Mädchens.
Akiz – so nennt sich der Berliner Video- und Film-Künstler, der mit bürgerlichem Namen Achim Bornhak heißt. Akiz, der auch als DJ in der Techno-Szene arbeitet, hat bereits mehrere Fernsehfilme und unter seinem eigentlichen Namen das Uschi-Obermeier-Biopic Das wilde Leben gedreht. Akiz lässt die psychischen Kämpfe Tinas offen. Er nimmt hingegen die Phantasie ernst. So werden die Reaktionen der Familie schauerlicher als die Kreatur, die Tina heimsucht.
Der Nachtmahr ist ein toller Kinofilm. Es ist auch ein großer Auftritt für Carolyn Genzkow in der zentralen Rolle der Tina. Dies ist ein Horrorfilm, der den Horror – wie alle guten Vertreter des Genres, inmitten der Gegenwart und Gesellschaft ansiedelt. Erschrecken kann man hier über sich selbst.
Dieser bemerkenswerte Film ist also ein seltenes Beispiel ernstzunehmenden deutschen Genrekinos und Horrorfilms, zugleich ein unverhohlener Rückgriff auf die Tradition der Schwarzen Romantik in Deutschland, die von den Märchen der Grimms und Hauffs über die Novellen E.T.A Hoffmanns bis zur Malerei Böcklins und den Filmen Murnaus reicht.
Wie aktualisiert man diese Erfahrungen für die Clubber-Generation und ihre Eltern? Akiz belegt, wie es gehen könnte: Indem man Erfahrungen, auch welche der Transzendenz, der »Bewusstseinserweiterung« ernst nimmt, nicht abtut.
In prachtvollen Grau und Blautönen ist dies auch ein gelungenes Portrait der Jugendszenen, der Clubs, ihrer Musik, ihres Driftens. Man versteht, dass junge Menschen in diese nächtlichen Paradiese nicht zuletzt deshalb eintauchen, weil sie sich in ihnen geborgener fühlen, weil sie entspannter sind, als die Tagwelt, deren Effizienz- und Verwertungszwängen sie entzogen sind.
Horror, das ist Exzess, Spiel mit der Wirklichkeit. Beim Konflikt zwischen dem, was er zeigt, und dem, was er verbirgt, entscheidet sich Regisseur Akiz für letzteres. Das macht den Film konsumierbarer. Der größte Teil des Schreckens bleibt hier der Vorstellung des Zuschauers überlassen.
Zugleich ist dies eine in Form und Inhalt stimmige Fabel des Erwachsenwerden, ein Film der Freiheit.
Warnung: Dieser Film beginnt mit »isochromatischen und binaurale Sounds«*. In Wirklichkeit mit dieser Warnung. Und wirklich: Kaum wurde dieser ein wenig rätselhafter Satz in den (Film-)Raum gestellt, schon erbebt der Kinosaal mit donnernden Technobeats und durchschneiden zuckende Stroboskopblitze das Dunkel.
Wir befinden uns auf einer illegalen Party in einem Schwimmbad irgendwo in Berlin. Mit auf der Party sind die 17-jährige Protagonistin Tina (Carolyn Grenzkow) und deren Freunde. Tina schluckt Partypillen, bis ihr die Lichter ausgehen. Als sie wieder das Bewusstsein erlangt, meint sie etwas Seltsames durch die Büsche huschen zu sehen. Dieses Ding entpuppt sich bald als ein kleines, koboldartiges Wesen, das Tina ab sofort regelmäßig in der Nacht besucht. Doch außer ihr kann niemand den mysteriösen Besucher sehen. Existiert er nur in Tinas Einbildung oder auch in der äußeren Realität?
Mit Der Nachtmahr hat der deutsche Filmemacher Akiz aka Achim Bornhak einen sehr treffenden Titel für seinen ungewöhnlichen Genrebeitrag gewählt. So kann »Nachtmahr« je nach Deutung entweder für »Albtraum« oder für »Nachtalb« stehen. Ersteres ist bekanntlich ein rein im Kopf bestehendes Konstrukt, während ein Nachtalb ein altes Fabel- und Sagenwesen bezeichnet, das die Menschen nachts heimsucht, um ihnen Grauen einzuflößen. Beide Bezeichnungen verweisen zudem auf die Zeit der klassischen »Schwarzen Romantik« – und somit auf die dunkle Seite der deutschen Innerlichkeit.
Eines der prototypischen Werke aus dieser Epoche ist das Gemälde »Nachtmahr« des gebürtigen Schweizers Johann Heinrich Füssli. Dieses zeigt ein koboldartiges Wesen, das auf einer vermutlich träumenden Frau hockt – womit interessanterweise auch dieses Bild bereits beide Bedeutungsebenen des Begriffs »Nachtmahr« beinhaltet. Zudem hat dieses Werk offenbar neben Der Nachtmahr bereits einen weiteren Fantasy-Horrorfilm der jüngeren Zeit beeinflusst. Links neben dem Nachtmahr erscheint im Dunkel ein ebenfalls die schlafende Frau betrachtender Pferdekopf. Dieser erinnert enorm an das entsprechende Bild im französischen Horsehead (2004). Aber dies nur am Rande ...
In Der Nachtmahr macht Akiz sogar noch weitere Bedeutungsebenen auf, ohne diese – und das ist das für einen deutschen Genrebeitrag (leider weiterhin) so Besondere – später auf eine einzige »richtige« Interpretation herunterzubrechen: Irgendwann zeigt sich, dass der Nachtmahr – eingebildet oder nicht – in direktem physischen Kontakt zu Tina steht. – Blutet das kleine Wesen, so blutet auch Tina. – Dies deutet darauf hin, dass der Nachtmahr ein externalisierter Teil von Tina selbst ist. Vielleicht das verdrängte »Andere«? – Möglich ist es, aber dankenswerterweise bleibt Der Nachtmahr bis zum Schluss erstaunlich bedeutungsoffen. – Gerade, wenn man meint zu wissen, wo der Mahr längs läuft, entschlüpft dieser wieder der fixierten Deutung und düst einfach frech davon.
Wohin der Weg der kleinen Kreatur genau geht, das bleibt ebenso offen, wie die Frage nach der genauen Natur einer per Smartphone festgehaltenen Zeitschleife. Fest steht nur, dass Akiz mit seinem komplett unabhängig produzierten Werk ein äußerst frischer, origineller und deshalb große Hoffnung weckender deutscher Gernefilmbeitrag geglückt ist. Hier hat einmal jemand die Kreativität und den Mut besessen, nicht einfach eine deutsche Version eines bereits erfolgserprobten US-amerikanischen Filmkonzepts zu verwirklichen, sondern etwas völlig Eigenes zu kreieren.
Bereits die Kreatur wurde von Akiz selbst erdacht und selbst modelliert. Letzteres hat den positiven Nebeneffekt, dass dieses Wesen nur zum geringsten Teil vom Rechner auf die große Leinwand gelangt ist und stattdessen überwiegend als »Oldschool«-Puppe ins Bild gesetzt wurde. – Dies verstärkt den Realismus der putzig-grotesken Kreatur.
Obwohl Der Nachtmahr offen endet, hat dessen Macher doch bereits einen Fahrplan, wie es weitergehen soll: Der Film ist als Auftakt einer Trilogie zum Thema »Geburt, Liebe und Tod« gedacht. – Nachdem es mit der Geburt so gut geklappt hat, ist nur zu hoffen, dass Akiz filmisches Kind zu stolzer Größe heranwachsen wird.
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isochromatisch = verschiedene Farben gleich behandelnd, für alle Spektralfarben gleich empfindlich, farbtonrichtig (Duden)
Binaurale Beats = (binaural: lat. »mit beiden Ohren«) sind eine akustische Täuschung, die wahrgenommen wird, wenn beiden Ohren Schall mit leicht unterschiedlicher Frequenz zugeführt wird. Anders als Schwebungen entstehen binaurale Beats nicht durch Überlagerung von Schallwellen im Ohr, sondern im Gehirn. (Wikipedia)