Österreich 2004 · 86 min. Regie: Michael Glawogger Drehbuch: Michael Ostrowski, Michael Glawogger Kamera: Wolfgang Thaler Darsteller: Raimund Wallisch, Michael Ostrowski, Pia Hierzegger, Iva Lukic, Sophia Laggner u.a. |
Wo das Problem liegt, das hat Max ja im Prinzip erkannt: Statt sich dauernd von den Kleinigkeiten des Daseins ablenken zu lassen – dass Max und Johann zum Beispiel nicht »den regelmäßigen Geschlechtsverkehr haben, der uns eigentlich zusteht« – sollte man sich um die grundlegenden Dinge kümmern. »Wie wir uns zum Beispiel davor schützen,« so Max, »dass wir nicht im nächsten Leben wieder als wir selbst auf die Welt kommen.«
Man kann verstehen, warum sie alles wollen, nur das nicht – noch einmal im selben Leben landen: Max und Johann sind zwei exemplarische Slacker; Ex-Studenten, die viele vermeintlich tolle Pläne haben, aber nichts auf die Reihe bekommen außer Abhängen, Kiffen und Selbstbefriedigung zu Speedway-Fernsehübertragungen. Höhepunkte in ihrem Leben sind »Schokoladeessen«-Spiele mit ihrer gemeinsamen, unnahbaren Freundin Mao, einer coolen Kleindealerin.
Max ist der
scheinbar Aktivere von beiden – der mit den dauernden Ideen für Werbespots, die man für viel Geld z.B. an die österreichische Post verkaufen sollte, der mit den großen Reden. Johann ist der Stillere, Realistischere, der wenigstens einen (verhassten) Job im Briefsortierzentrum hat.
Romantiker sind sie auf ziemlich verquere und uneingestandene Art beide. Max mit seiner geheim gehaltenen Liebe zu Mao; Johann, der in die Post anonyme erotische Briefe an zufällig
ausgewählte Frauen in der Provinz schmuggelt.
Vielleicht schaffen sie’s ja, im nächsten Leben wer anders zu werden. Die Chancen, dass sie in diesem Dasein nochmal aus ihrer Haut können, scheint gering. Aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Und drum benötigt Mao auch nicht allzuviel Überredungskunst, als sie zwei willige Opfer braucht, die ihr die männlichen Hauptdarsteller machen in einem Porno. Denn Maos Drogenconnection Schorsch ist finanziell klamm und hofft, dass er als Sexfilmproduzent schnell zu Geld
kommt.
Nach einschlägigen Recherchen im Erotikladen und vor dem Videorekorder läuft bei Max und Johann recht flott das Kopfkino an, in dem sie plötzlich all ihre Probleme und Hemmungen los sind: Im Porno gibt es keine großen Komplikationen, da wollen und können alle immer, da verschwindet jedes vielschichtige Ich hinter einem schlüpfrigen Pseudonym und cool-schmierigem Styling, da verpuffen die Unwägbarkeiten der Kommunikation zu zotigen Dialogen. Und all das schwierige
Zwischenmenschliche reduziert sich aufs mechanisch Leibliche, niedere Mathematik – eine simple Kombinatorik der Körperöffnungen.
Es ist aber nun mal nicht jeder zum Pornoakteur geboren, und das müssen Max, Johann und die zwei von ihnen gecasteten Darstellerinnen – die etwas spröde, widerstrebende Martha, Kundin und Schuldnerin Maos, und die reichlich unkomplizierte, aber gelangweilte Osteuropäerin Mara – ziemlich bald feststellen. Denn selbstverständlich reicht es nicht, sich Künstlernamen wie »Joe Latte« zu geben und trashige Sonnenbrillen und Schieberkäppis aufzusetzen, um
plötzlich alles zu löschen, was bisher im Hirn vorging. Der Kopf steht halt doch dauernd dem Körper im Weg.
»Wir müssen einfach einmal aufhören nachzudenken. Und uns mehr in den Zustand des Schaffens versetzen. Des denk halt i,« bringt’s Johann schön selbstwidersprüchlich auf den Punkt. Einmal wieder sein wie die Tiere – die den Film auf semi-surreale Weise nicht nur als optisches Leitmotiv durchziehen sondern von denen zudem demonstriert wird, dass ihre Namen auch als
absurde Verben zu gebrauchen sind: »Wir sollten uns mit Alkohol geparden,« heißt die Losung; und insgeheim ist wohl auch der Filmtitel als so eine sprachliche Kippfigur gedacht.
Die Sehnsucht nach einem tierischen Urzustand, wo das Ficken endlich einmal nicht mehr mit Tabus, Empfindlichkeiten, Peinlichkeiten, Hemmungen und all dem persönlichen Ballast befrachtet ist, findet in einem utopischen Moment von Nacktschnecken sogar ihre Erfüllung. Die Anwesenheit der Videokamera ist dafür ein Katalysator, aber im Moment der animalischen Gruppen-Extase ist freilich auch Schluss mit jeder bewussten Porno-Inszenierung. Das Aufgeben
des Bewusstseins ist kein plan-, kontrollier- und kommerzialisierbares Hobby-Projekt.
Lang halten die Augenblicke der sexuellen Rudel-Idylle sowieso nicht an. In einer der klügsten, vielschichtigsten und bittersten Szenen des Films, in der der Tonfall vollends aus dem Komödiantischen kippt, sitzt Max noch in der selben Nacht auf der Terasse, schaut sich auf dem Monitor der Videokamera an, was von dem Treiben mehr oder minder zufällig festgehalten wurde – und entdeckt
dann live vor der Linse im Gras Johann und Mao beim Sex. Er hält’s für ein Missverständnis, glaubt, die beiden würden meinen er filmte sie und täten’s für die Kamera. Aber es ist »privat« – und nicht privat: Sie setzen fort, wovon eben noch alle, Max voran, so begeistert waren – dass jeder mit jedem kann und darf und es nichts bedeutet. Aber dieser Zustand ist nicht haltbar, die Köpfe sind wieder zugeschaltet, und schon ist wieder alles ein Problem, weil bei Max
längst wieder die Rotoren seiner unerwiderten Liebe durchdrehen und die Eifersuchtsmaschine im Leerlauf heißläuft.
Dass es mit den Utopien immer schwierig ist, zeigt schon der Ort des Möchtegern-Pornodrehs: Es ist das Einfamilienhaus von Maos Eltern inmitten der ländlichen Provinz. Die Eltern sind Althippies und ihr Haus das architekturgewordene Eingeständnis, dass ihre wahren Träume halt doch ganz kleinbürgerliche waren und sind. Sie sind im Sommerurlaub am Betonstrand einer windverwehten, exkommunistischen Republik, ohne Fernseher – eine Selbstgeißelung dafür, dass
Papa beim »Bekämpfen des Systems von innen heraus« es sich dann irgendwie doch viel zu gut eingerichtet hat im System, er zu gut verdient, das spießige Haus gebaut hat.
Von ihrer Tochter wissen sie wenig, reden von ihr wie von einer netten, entfernten Bekannten, und ob sie den ‘68er-Idealen von der freien Liebe je so angehangen haben, dass sie’s toll fänden, was Mao in ihrer Abwesenheit mit der sturmfreien Bude anstellt, das steht arg zu bezweifeln.
Immerhin führt
endlich mal wieder jemand Papas feinsäuberlich geordnete und penibel gehortete Alt-'68er-Plattensammlung ihrer eigentlichen Bestimmung zu, vervollständigt den klassischen Dreisatz aus Sex & Drugs & Rock'n'Roll und macht den Soundtrack der Sixties und Seventies nocheinmal zur Tonspur für einen (wie gesagt: kurzen, fragilen) Moment der Utopien.
Die Musik, »aufgelegt« (so der Vorspann) von Patrick Pulsinger, ist überhaupt ein ganz entscheidendes Element für Nacktschnecken. Sie hat großen Anteil daran, dass der Film in den entscheidenden Augenblicken die schwierige Balance hält zwischen Komödie und Ernst, zwischen Distanz und Empathie.
Denn Nacktschnecken spielt ein diffizileres Spiel, als der erste Blick auf die unaufgeregte Oberfläche vermuten lässt. Er lässt seine
Charaktere oft zotig und schlüpfrig sein, ohne es selbst zu werden; er zeigt sie bekifft, ohne selbst das große Gekichere zu bekommen; er zeigt sie beim Sex, ohne sich daran aufzugeilen – und trotzdem hat er auch keinen kalten Blick, entzieht den Figuren nie die Sympathie.
Wenn hier in diesem Text ein bisschen wenig die Rede davon ist, dass Nacktschnecken voll treffender Charakterkomik ist und voll wunderbar lakonischem Dialogwitz, wie ihn so nur die Österreicher draufhaben, und der Film zunächst einmal Spaß und Freude bereitet, dann aus dem einfachen Grund, dass dies gänzlich offensichtliche Qualitäten sind, für die man nicht groß die Augen öffnen müsste.
Aber der Film ist eben keine Sexklamotte, keine Teeniekomödie, er huldigt keiner Gag-Mechanik von Irrungen und Wirrungen, wie sie Mao am Anfang für ihren eigenen Sexstreifen einfordert – »so wie in einem Hotel, wo einer die Tür zuschmeißt, und dann wird aus einem Neuner ein Sechser.« Es gibt nicht die nahe liegenden Momente des lustigen Ertapptwerdens, wo die »verbotene« Welt des Pornodrehs mit der »normalen« Außenwelt konfrontiert würde. Max, Johann, Mao und Co. werden nie nach außen hin entblößt – ihr Scheitern ist, ganz frei, gleich und geheim, ein reines Scheitern an sich selbst.
Nacktschnecken hatte seine Genese im kreativen Umkreis des Grazer »Theater im Bahnhof«; Autor und Hauptdarsteller Michael Ostrowski ist dort – wie auch ein Gutteil der übrigen Filmdarsteller – Ensemblemitglied, Autor, Regisseur. Diese Grazer Bühne verbindet auf typisch österreichische Weise Volkstheater mit zeitgenössischen Kunstansätzen. Der Brückenschlag zwischen aus dem Alltag geschöpfter Derbheit, Direktheit, Unterhaltungswert
und dem Anspruch, dem Menschsein dennoch schonungslos auf den Grund zu gehen und dabei mit den formalen Kunstmitteln zu spielen, hat Tradition in der Alpenrepublik, und in dieser Tradition – viel mehr als in der ebenso ehrenwerten des österreichischen Kabaretts – darf man durchaus auch Nacktschnecken sehen.
Regisseur und Co-Autor Michael Glawogger hingegen hatte seine größten Erfolge als Dokumentarfilmer (Megacities); er hat auch mit Ulrich Seidl (Hundstage) und Barbara Albert (Nordrand, Böse Zellen) zusammengearbeitet. Und auch
das ist in dem Film, hat man einmal dafür die Augen geöffnet, unverkennbar. Das Dokumentarische daran, wie undesigned, ranzlig, unrasiert das Feeling vieler Bilder ist; im genauen (auch sprachlich-dialektalen) Gespür für (österreichische) Typen und Orte, die hier eben nicht wie im deutschen Kino nur als Klischee aus anderen Filmen abgeguckt wirken. Die Albert/Seidl-Connection im letztlich ziemlich schonungslosen – wenngleich hier komödiantisch gemilderten und deutlich
weniger stilisiert-zerknirschten – Blick auf das zwischenmenschliche Ödland und die geringe Hoffnung auf einen Ausbruch aus den Schienen der ungeliebten Existenz.
Diesen Traditionen verdankt man es wohl auch, dass Nacktheit in Nacktschnecken so ganz anders und viel erwachsener verhandelt wird als in deutschen oder (gottbehüte!) US-amerikanischen Produktionen mit vergleichbaren Sujets.
Nacktheit ist hier in keinem Sinn etwas Aufregendes. Sie gehört zum Thema, aber es wird um sie weder groß herumgedruckst, noch schaulustiges Aufhebens veranstaltet. Es wird ihr kein Wert an sich zugestanden; sie ist einfach
da, wenn es die Handlung verlangt: Eine exakte Negierung des pornographischen Prinzips.
Vor allem aber untergräbt der Film aufs Herrlichste die Fixierung des Kinos auf »attraktive« (und zuvorderst: Frauen-)Körper. Die explizitesten Szenen hat ausgerechnet Raimund Wallisch, der – mit Verlaub – wahrlich kein Adonis ist. Und der bei einem der (im Wortsinn) Höhepunkte des Films auch noch ein berühmtes Motiv der Gay-Glamour-Kitsch-Künstler Gilbert & George auf
ästhetisches Kleingärtnerformat geschrumpft nachstellen darf.
Max und Johann sind nicht die einzigen, die sich in Nacktschnecken in ein anderes Leben wünschen. Auch wenn er es sicher nicht so schön intellektuell versprachlichen könnte wie die beiden – es trifft auf Schorsch, den Dealer und Möchtegern-Porno-Produzenten mit seinem »True Love«-Jesus Shirt, bestimmt nicht minder zu. (Niemand weltweit kann solche Kackspechte derzeit so großartig spielen wie der begnadete Georg Friedrich.) Nur hat Schorsch die Sehnsucht besser getarnt, weil er scheinbar seinen Traum vom Gangstersein lebt: Er hat alles, was dazugehört – die gelbe Corvette, die Lederjacke mit Fransen, die Handfeuerwaffe.
Aber wenn wir für ein paar Sekunden durch einen Spalt in Schorschs Wohnungstür gucken dürfen, sehen wir im Hintergrund eine Frau mit Kleinkind auf dem Arm, was uns vermutlich eine bessere Ahnung von seinem wirklichen Leben gibt. Und was hilft die (nicht abbezahlte) Corvette, wenn man nirgends richtig hat, um damit hinzufahren? »Umadum halt« würde er fahren, sagt Schorsch erzürnt, als sein deutlich smarterer, deutscher Geschäftskollege und Gläubiger (Detlev Buck in einem hübschen Gastauftritt) den Finger in genau diese Wunde legt. Und man spürt, wie dünn die Fiktion seiner Gangster-Coolness ist.
Aber während Max und Johann am Ende wieder ziemlich genau da sind, wo sie schon am Anfang waren, und sie schon wieder Pläne spinnen für revolutionäre Werbespots, gibt es für Schorsch wenigstens den Schimmer einer Perspektive, dass sich etwas ändern könnte. Aber nur, weil sein Traum komplett und beinahe-katastrophal gegen die Wand fährt.
Wenn es in Nacktschnecken einen Weg gibt zu sowas Ähnlichem wie Glück, dann ist es der Abschied von den Illusionen, den
Fantasien, der Hoffnung auf was Größeres, Schöneres, Besseres.
Johanns in die Post geschmuggelten Erotik-Epistel haben einer jungen Ehefrau, die mit ihrem Mann in der Tristesse eines Eigenheim-Rohbaus gefangen ist, zu genau solchen romantischen Träumen verholfen. Und damit offenbar das Eheleben schwer gestört. Aber dann findet sie durch Zufall heraus, wer ihr diese Briefe geschrieben hat. Und als sie des Wort-Casanovas und seiner ganzen erbärmlichen, verdrucksten Normalität angesichtig wird, als ihr klar wird, dass die Zeilen nie für sie speziell geschrieben waren und der Mann dahinter überhaupt nichts Besonderes ist – da klappt es dann plötzlich wieder mit ihrem ähnlich armseligen Mann. Da treiben sie es dann, in ihrer unfertigen Heimwerker-Hö(h/l)le, wie die... Nein, nicht wie die Tiere: Wie die Menschen, die wissen, dass sie was Besseres nicht kriegen. Und falls auch da bald der Moment der Ernüchterung kommen sollte, dann breitet Nacktschnecken darüber zumindest den Mantel des Schweigens.