Nacktschnecken

Wie die Tiere

Wo das Problem liegt, das hat Max ja im Prinzip erkannt: Statt sich dauernd von den Klei­nig­keiten des Daseins ablenken zu lassen – dass Max und Johann zum Beispiel nicht »den regel­mäßigen Geschlechts­ver­kehr haben, der uns eigent­lich zusteht« – sollte man sich um die grund­le­genden Dinge kümmern. »Wie wir uns zum Beispiel davor schützen,« so Max, »dass wir nicht im nächsten Leben wieder als wir selbst auf die Welt kommen.«

Man kann verstehen, warum sie alles wollen, nur das nicht – noch einmal im selben Leben landen: Max und Johann sind zwei exem­pla­ri­sche Slacker; Ex-Studenten, die viele vermeint­lich tolle Pläne haben, aber nichts auf die Reihe bekommen außer Abhängen, Kiffen und Selbst­be­frie­di­gung zu Speedway-Fern­sehüber­tra­gungen. Höhe­punkte in ihrem Leben sind »Scho­ko­la­de­essen«-Spiele mit ihrer gemein­samen, unnah­baren Freundin Mao, einer coolen Klein­dea­lerin.
Max ist der scheinbar Aktivere von beiden – der mit den dauernden Ideen für Werbe­spots, die man für viel Geld z.B. an die öster­rei­chi­sche Post verkaufen sollte, der mit den großen Reden. Johann ist der Stillere, Realis­ti­schere, der wenigs­tens einen (verhassten) Job im Brief­sor­tier­zen­trum hat.
Roman­tiker sind sie auf ziemlich verquere und unein­ge­stan­dene Art beide. Max mit seiner geheim gehal­tenen Liebe zu Mao; Johann, der in die Post anonyme erotische Briefe an zufällig ausge­wählte Frauen in der Provinz schmug­gelt.

Viel­leicht schaffen sie’s ja, im nächsten Leben wer anders zu werden. Die Chancen, dass sie in diesem Dasein nochmal aus ihrer Haut können, scheint gering. Aber die Hoffnung stirbt bekannt­lich zuletzt. Und drum benötigt Mao auch nicht allzuviel Über­re­dungs­kunst, als sie zwei willige Opfer braucht, die ihr die männ­li­chen Haupt­dar­steller machen in einem Porno. Denn Maos Drogen­con­nec­tion Schorsch ist finan­ziell klamm und hofft, dass er als Sexfilm­pro­du­zent schnell zu Geld kommt.
Nach einschlägigen Recher­chen im Eroti­k­laden und vor dem Video­re­korder läuft bei Max und Johann recht flott das Kopfkino an, in dem sie plötzlich all ihre Probleme und Hemmungen los sind: Im Porno gibt es keine großen Kompli­ka­tionen, da wollen und können alle immer, da verschwindet jedes viel­schich­tige Ich hinter einem schlüpf­rigen Pseudonym und cool-schmie­rigem Styling, da verpuffen die Unwäg­bar­keiten der Kommu­ni­ka­tion zu zotigen Dialogen. Und all das schwie­rige Zwischen­mensch­liche reduziert sich aufs mecha­nisch Leibliche, niedere Mathe­matik – eine simple Kombi­na­torik der Körperöff­nungen.

Es ist aber nun mal nicht jeder zum Porno­ak­teur geboren, und das müssen Max, Johann und die zwei von ihnen gecas­teten Darstel­le­rinnen – die etwas spröde, wider­stre­bende Martha, Kundin und Schuld­nerin Maos, und die reichlich unkom­pli­zierte, aber gelang­weilte Osteu­ropäerin Mara – ziemlich bald fest­stellen. Denn selbst­ver­s­tänd­lich reicht es nicht, sich Künst­ler­namen wie »Joe Latte« zu geben und trashige Sonnen­brillen und Schie­ber­käppis aufzu­setzen, um plötzlich alles zu löschen, was bisher im Hirn vorging. Der Kopf steht halt doch dauernd dem Körper im Weg.
»Wir müssen einfach einmal aufhören nach­zu­denken. Und uns mehr in den Zustand des Schaffens versetzen. Des denk halt i,« bringt’s Johann schön selbst­wi­der­sprüch­lich auf den Punkt. Einmal wieder sein wie die Tiere – die den Film auf semi-surreale Weise nicht nur als optisches Leitmotiv durch­ziehen sondern von denen zudem demons­triert wird, dass ihre Namen auch als absurde Verben zu gebrau­chen sind: »Wir sollten uns mit Alkohol geparden,« heißt die Losung; und insgeheim ist wohl auch der Filmtitel als so eine sprach­liche Kippfigur gedacht.

Die Sehnsucht nach einem tieri­schen Urzustand, wo das Ficken endlich einmal nicht mehr mit Tabus, Empfind­lich­keiten, Pein­lich­keiten, Hemmungen und all dem persön­li­chen Ballast befrachtet ist, findet in einem utopi­schen Moment von Nackt­schne­cken sogar ihre Erfüllung. Die Anwe­sen­heit der Video­ka­mera ist dafür ein Kata­ly­sator, aber im Moment der anima­li­schen Gruppen-Extase ist freilich auch Schluss mit jeder bewussten Porno-Insze­nie­rung. Das Aufgeben des Bewusst­seins ist kein plan-, kontrol­lier- und kommer­zia­li­sier­bares Hobby-Projekt.
Lang halten die Augen­blicke der sexuellen Rudel-Idylle sowieso nicht an. In einer der klügsten, viel­schich­tigsten und bittersten Szenen des Films, in der der Tonfall vollends aus dem Komö­di­an­ti­schen kippt, sitzt Max noch in der selben Nacht auf der Terasse, schaut sich auf dem Monitor der Video­ka­mera an, was von dem Treiben mehr oder minder zufällig fest­ge­halten wurde – und entdeckt dann live vor der Linse im Gras Johann und Mao beim Sex. Er hält’s für ein Miss­ver­s­tändnis, glaubt, die beiden würden meinen er filmte sie und täten’s für die Kamera. Aber es ist »privat« – und nicht privat: Sie setzen fort, wovon eben noch alle, Max voran, so begeis­tert waren – dass jeder mit jedem kann und darf und es nichts bedeutet. Aber dieser Zustand ist nicht haltbar, die Köpfe sind wieder zuge­schaltet, und schon ist wieder alles ein Problem, weil bei Max längst wieder die Rotoren seiner uner­wi­derten Liebe durch­drehen und die Eifer­suchts­ma­schine im Leerlauf heißläuft.

Dass es mit den Utopien immer schwierig ist, zeigt schon der Ort des Möch­te­gern-Porno­drehs: Es ist das Einfa­mi­li­en­haus von Maos Eltern inmitten der länd­li­chen Provinz. Die Eltern sind Althip­pies und ihr Haus das archi­tek­tur­ge­wor­dene Einge­ständnis, dass ihre wahren Träume halt doch ganz klein­bür­ger­liche waren und sind. Sie sind im Sommer­ur­laub am Beton­strand einer wind­ver­wehten, exkom­mu­nis­ti­schen Republik, ohne Fernseher – eine Selbst­geiße­lung dafür, dass Papa beim »Bekämpfen des Systems von innen heraus« es sich dann irgendwie doch viel zu gut einge­richtet hat im System, er zu gut verdient, das spießige Haus gebaut hat.
Von ihrer Tochter wissen sie wenig, reden von ihr wie von einer netten, entfernten Bekannten, und ob sie den ‘68er-Idealen von der freien Liebe je so ange­hangen haben, dass sie’s toll fänden, was Mao in ihrer Abwe­sen­heit mit der sturm­freien Bude anstellt, das steht arg zu bezwei­feln.
Immerhin führt endlich mal wieder jemand Papas fein­säu­ber­lich geordnete und penibel gehortete Alt-'68er-Plat­ten­samm­lung ihrer eigent­li­chen Bestim­mung zu, vervoll­s­tän­digt den klas­si­schen Dreisatz aus Sex & Drugs & Rock'n'Roll und macht den Sound­track der Sixties und Seventies noch­einmal zur Tonspur für einen (wie gesagt: kurzen, fragilen) Moment der Utopien.

Die Musik, »aufgelegt« (so der Vorspann) von Patrick Pulsinger, ist überhaupt ein ganz entschei­dendes Element für Nackt­schne­cken. Sie hat großen Anteil daran, dass der Film in den entschei­denden Augen­bli­cken die schwie­rige Balance hält zwischen Komödie und Ernst, zwischen Distanz und Empathie.
Denn Nackt­schne­cken spielt ein diffi­zi­leres Spiel, als der erste Blick auf die unauf­ge­regte Ober­fläche vermuten lässt. Er lässt seine Charak­tere oft zotig und schlüpfrig sein, ohne es selbst zu werden; er zeigt sie bekifft, ohne selbst das große Gekichere zu bekommen; er zeigt sie beim Sex, ohne sich daran aufzu­g­eilen – und trotzdem hat er auch keinen kalten Blick, entzieht den Figuren nie die Sympathie.

Wenn hier in diesem Text ein bisschen wenig die Rede davon ist, dass Nackt­schne­cken voll tref­fender Charak­ter­komik ist und voll wunderbar lako­ni­schem Dialog­witz, wie ihn so nur die Öster­rei­cher drauf­haben, und der Film zunächst einmal Spaß und Freude bereitet, dann aus dem einfachen Grund, dass dies gänzlich offen­sicht­liche Qualitäten sind, für die man nicht groß die Augen öffnen müsste.

Aber der Film ist eben keine Sexkla­motte, keine Teenie­komödie, er huldigt keiner Gag-Mechanik von Irrungen und Wirrungen, wie sie Mao am Anfang für ihren eigenen Sexstreifen einfor­dert – »so wie in einem Hotel, wo einer die Tür zuschmeißt, und dann wird aus einem Neuner ein Sechser.« Es gibt nicht die nahe liegenden Momente des lustigen Ertappt­wer­dens, wo die »verbotene« Welt des Porno­drehs mit der »normalen« Außenwelt konfron­tiert würde. Max, Johann, Mao und Co. werden nie nach außen hin entblößt – ihr Scheitern ist, ganz frei, gleich und geheim, ein reines Scheitern an sich selbst.

Nackt­schne­cken hatte seine Genese im kreativen Umkreis des Grazer »Theater im Bahnhof«; Autor und Haupt­dar­steller Michael Ostrowski ist dort – wie auch ein Gutteil der übrigen Film­dar­steller – Ensem­ble­mit­glied, Autor, Regisseur. Diese Grazer Bühne verbindet auf typisch öster­rei­chi­sche Weise Volks­theater mit zeit­genös­si­schen Kunst­an­sätzen. Der Brücken­schlag zwischen aus dem Alltag geschöpfter Derbheit, Direkt­heit, Unter­hal­tungs­wert und dem Anspruch, dem Mensch­sein dennoch scho­nungslos auf den Grund zu gehen und dabei mit den formalen Kunst­mit­teln zu spielen, hat Tradition in der Alpen­re­pu­blik, und in dieser Tradition – viel mehr als in der ebenso ehren­werten des öster­rei­chi­schen Kabaretts – darf man durchaus auch Nackt­schne­cken sehen.
Regisseur und Co-Autor Michael Glawogger hingegen hatte seine größten Erfolge als Doku­men­tar­filmer (Mega­ci­ties); er hat auch mit Ulrich Seidl (Hundstage) und Barbara Albert (Nordrand, Böse Zellen) zusam­men­ge­ar­beitet. Und auch das ist in dem Film, hat man einmal dafür die Augen geöffnet, unver­kennbar. Das Doku­men­ta­ri­sche daran, wie unde­si­gned, ranzlig, unrasiert das Feeling vieler Bilder ist; im genauen (auch sprach­lich-dialek­talen) Gespür für (öster­rei­chi­sche) Typen und Orte, die hier eben nicht wie im deutschen Kino nur als Klischee aus anderen Filmen abgeguckt wirken. Die Albert/Seidl-Connec­tion im letztlich ziemlich scho­nungs­losen – wenn­gleich hier komö­di­an­tisch gemil­derten und deutlich weniger stili­siert-zerknirschten – Blick auf das zwischen­mensch­liche Ödland und die geringe Hoffnung auf einen Ausbruch aus den Schienen der unge­liebten Existenz.

Diesen Tradi­tionen verdankt man es wohl auch, dass Nacktheit in Nackt­schne­cken so ganz anders und viel erwach­sener verhan­delt wird als in deutschen oder (gott­behüte!) US-ameri­ka­ni­schen Produk­tionen mit vergleich­baren Sujets.
Nacktheit ist hier in keinem Sinn etwas Aufre­gendes. Sie gehört zum Thema, aber es wird um sie weder groß herum­ge­druckst, noch schau­lus­tiges Aufhebens veran­staltet. Es wird ihr kein Wert an sich zuge­standen; sie ist einfach da, wenn es die Handlung verlangt: Eine exakte Negierung des porno­gra­phi­schen Prinzips.
Vor allem aber unter­gräbt der Film aufs Herr­lichste die Fixierung des Kinos auf »attrak­tive« (und zuvor­derst: Frauen-)Körper. Die expli­zi­testen Szenen hat ausge­rechnet Raimund Wallisch, der – mit Verlaub – wahrlich kein Adonis ist. Und der bei einem der (im Wortsinn) Höhe­punkte des Films auch noch ein berühmtes Motiv der Gay-Glamour-Kitsch-Künstler Gilbert & George auf ästhe­ti­sches Klein­gärt­n­er­format geschrumpft nach­stellen darf.

Max und Johann sind nicht die einzigen, die sich in Nackt­schne­cken in ein anderes Leben wünschen. Auch wenn er es sicher nicht so schön intel­lek­tuell versprach­li­chen könnte wie die beiden – es trifft auf Schorsch, den Dealer und Möch­te­gern-Porno-Produ­zenten mit seinem »True Love«-Jesus Shirt, bestimmt nicht minder zu. (Niemand weltweit kann solche Kack­spechte derzeit so großartig spielen wie der begnadete Georg Friedrich.) Nur hat Schorsch die Sehnsucht besser getarnt, weil er scheinbar seinen Traum vom Gangs­ter­sein lebt: Er hat alles, was dazu­gehört – die gelbe Corvette, die Leder­jacke mit Fransen, die Hand­feu­er­waffe.

Aber wenn wir für ein paar Sekunden durch einen Spalt in Schorschs Wohnungstür gucken dürfen, sehen wir im Hinter­grund eine Frau mit Kleinkind auf dem Arm, was uns vermut­lich eine bessere Ahnung von seinem wirk­li­chen Leben gibt. Und was hilft die (nicht abbe­zahlte) Corvette, wenn man nirgends richtig hat, um damit hinzu­fahren? »Umadum halt« würde er fahren, sagt Schorsch erzürnt, als sein deutlich smarterer, deutscher Geschäfts­kol­lege und Gläubiger (Detlev Buck in einem hübschen Gast­auf­tritt) den Finger in genau diese Wunde legt. Und man spürt, wie dünn die Fiktion seiner Gangster-Coolness ist.

Aber während Max und Johann am Ende wieder ziemlich genau da sind, wo sie schon am Anfang waren, und sie schon wieder Pläne spinnen für revo­lu­ti­onäre Werbe­spots, gibt es für Schorsch wenigs­tens den Schimmer einer Perspek­tive, dass sich etwas ändern könnte. Aber nur, weil sein Traum komplett und beinahe-kata­stro­phal gegen die Wand fährt.
Wenn es in Nackt­schne­cken einen Weg gibt zu sowas Ähnlichem wie Glück, dann ist es der Abschied von den Illu­sionen, den Fantasien, der Hoffnung auf was Größeres, Schöneres, Besseres.

Johanns in die Post geschmug­gelten Erotik-Epistel haben einer jungen Ehefrau, die mit ihrem Mann in der Tristesse eines Eigenheim-Rohbaus gefangen ist, zu genau solchen roman­ti­schen Träumen verholfen. Und damit offenbar das Eheleben schwer gestört. Aber dann findet sie durch Zufall heraus, wer ihr diese Briefe geschrieben hat. Und als sie des Wort-Casanovas und seiner ganzen erbärm­li­chen, verdrucksten Norma­lität ange­sichtig wird, als ihr klar wird, dass die Zeilen nie für sie speziell geschrieben waren und der Mann dahinter überhaupt nichts Beson­deres ist – da klappt es dann plötzlich wieder mit ihrem ähnlich armse­ligen Mann. Da treiben sie es dann, in ihrer unfer­tigen Heim­werker-Hö(h/l)le, wie die... Nein, nicht wie die Tiere: Wie die Menschen, die wissen, dass sie was Besseres nicht kriegen. Und falls auch da bald der Moment der Ernüch­te­rung kommen sollte, dann breitet Nackt­schne­cken darüber zumindest den Mantel des Schwei­gens.