Frankreich/PL/B 2017 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Roman Polanski Drehbuch: Roman Polanski, Olivier Assayas Kamera: Pawel Edelman Darsteller: Emmanuelle Seigner, Eva Green, Vincent Perez, Josée Dayan, Camille Chamoux u.a. |
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Vielleicht ist die homoerotische Episode ja auch ein Hinweis auf eine prinzipielle Identität der Figuren…? |
Der Autor und das berühmte weiße Blatt Papier: Wer schreibt, weiß, was hier ansteht. Zugleich herausgefordert wie gelähmt starrt man auf den leeren Monitor, als könnte allein der Blick das Ungeschriebene hervorbringen. Währenddessen: Blutleere im Gehirn. Prokastinierende Praxis soll am Ende die Rettung bringen. Oder vielleicht doch lieber einen Ghostwriter engagieren?
Roman Polanski hat aus dieser grundlegend einsamen Situation einen überaus abgründigen Psychothriller gemacht, der das Begriffspaar von Kreation und Realität auf ein rutschiges Möbiusband schickt, bei dem beide Seiten unterschiedslos ineinander übergehen. Was ist »wahr«? Was entstammt dem Akt der Kreation? Nach einer wahren Geschichte heißt sein Film nach dem gleichnamigen Bestseller von Delphine de Vignan. »Nach einer wahren Geschichte« ist aber auch die Formel, mit der uns im Kino immer mehr Geschichten begegnen, die auf einem Authentizitätsanspruch beharren, um mehr Zuschauer für sich zu interessieren. Was Polanski aus diesem vielfältigen Pakt zwischen Kreation und Realität, Fiktion und Rezeption macht, ist wiederum ziemlich genial.
Für das Drehbuch hat er Olivier Assayas engagiert, der auch für André Téchiné schon Drehbücher geschrieben hatte. Vor allem aber zuletzt Personal Shopper muss Polanski die Eingebung gegeben haben, Assayas für seine Geschichte zu engagieren. Der Film ist wie Nach einer wahren Geschichte eine Geister- bzw. Doppelgängergeschichte, deren zentrales Motiv der »Intruder« ist: jemand schleicht sich klammheimlich in das Leben eines anderen und bemächtigt sich seiner Identität. Was als Symbiose beginnt, endet als existenzbedrohendes Duell.
Bei Polanski steht die Pariser Autorin Delphine (Emmanuelle Seigner) im Zentrum, die soeben einen Bestseller hingelegt hat, indem sie – offenkundig autobiographisch – Details aus ihrer Familiengeschichte preisgegeben hat. Neben der Schreibblockade, die sie nach dem großen Erfolg hat, setzen ihr nun anonyme Briefe zu, die aus dem Umfeld ihrer Familie kommen. Ein Groupie der Autorin bietet sich in dieser Situation an, für sie zu arbeiten. Sie heißt »Elle«, was im Französischen gleichbedeutend ist für die dritte Person Singular, »sie«. Ein Name also wie ein Platzhalter, der stellvertretend für viele Personen einsetzbar ist; er ist außerdem das literarische Pronomen personalen Erzählens, bei dem der Autor gewissermaßen in das Leben seiner Figuren eindringt, und er bleibt zugleich identifikationslos anonym.
Elle ist professionelle Ghostwriterin und beantwortet als ersten Akt die Mails der depressiven Delphine. Der Schlüssel in ihr Leben sind die Passwörter, der Wohnungsschlüssel, dann der Zugriff auf den Kleiderschrank und die Tönung der Haare in einer ähnlichen Farbe. Diese Oberflächlichkeiten sind Insignien einer tiefgründigen neurotischen Angstkonstellation, in der ein Alter Ego, stärker als das eigene Ich, das Zepter über das eigene Leben übernimmt.
Eva Green spielt die aufdringliche Doppelgängerin mit gebotener Diabolik, und Polanski lässt von Anfang an klar durchscheinen, was das Spiel sein wird. Vieles ist sehr berechenbar, der Film nur dezent spannend, und doch wird man als durchaus souveräner Beobachter in den elegant ausgebreiteten Thrill hineingezogen. Gerade die unterkühlte Atmosphäre mit ihren Blau- und Grautönen erinnert immer wieder auch, neben Assayas' Personal Shopper, an François Ozons Doppelgängergeschichten, wie sie unlängst in Der andere Liebhaber zu sehen war. Mit Nach einer wahren Geschichte reiht sich Polanski in die Thriller dieser jüngeren französischen Meister ein. Nur wenn sich, sehr selten, eine etwas altbackene Horrorästhetik in den Film schummelt, ahnt man, dass man einem »wahren« Polanski hier womöglich auf grandiose Weise entkommen ist.
Delphine ist eine erfolgreiche Bestsellerautorin mit leichtem Burnoutsyndrom. Als sie ihr neuestes Buch bei einer Lesung mit anschließender Signierstunde vorstellt, lernt die Schriftstellerin Elle kennen – »Elle wie Elisabeth«, wie die Frau sich vorstellt. »Elle« aber auch wie einfach »sie« auf Französisch, also ein austauschbarer, prototypischer Frauenname. Elle ist etwa gleichalt wie Delphine. Sie ist nicht nur ein Fan von deren Romanen, sie ist nicht nur erkennbar intelligent und sieht blendend aus, sondern sie hat auch alle Qualitäten einer Femme Fatale: Überaus selbstbewusst und manipulativ erscheint sie jederzeit Herrin der Situation.
Schnell wird Elle aus einem Groupie und Fan zu Delphines neuer »bester Freundin«, sie dringt in deren Leben in und verändert es, zunächst kaum merklich.
Doch allmählich beginnen andere Freunde Delphines, sich Sorgen zu machen. Die ohnehin labile Autorin verliert ihr inneres Gleichgewicht.
Aber ist die neue Freundin tatsächlich eine Bedrohung, wie die Filmbilder nahelegen? Oder ist diese Bedrohung nur von einer hysterischen Frau mit Schreibblockade konstruiert? Denn Elle versucht Delphine auch zum Schreiben zu motivieren. Sehen wir auf der Leinwand also nicht vor allem Delphines innere Sicht und ihr schlechtes Gewissen? Aus solchen Fragen und Zweifeln an der sichtbaren Realität wird dieser Thriller angetrieben.
Es geht hier auch um das Wesen des Schreibens, und
um die Natur der Kunst. Darum, wie Kunst und Phantasie in das richtige Leben eingreifen. Ist eine Schriftstellerin verantwortlich für die Gefühle, die sie in ihren Lesern weckt?
Zugleich erzählt der Film auch von der Rache einer Leserin an ihrer Lieblingsautorin – also von den Ängsten der Künstler.
Nach einer wahren Geschichte, der neue Film von Roman Polanski, dessen Drehbuch er zusammen mit seinem französischen Landsmann Olivier Assayas geschrieben hat, ist ein typischer Polanski-Film: Virtuos inszeniert, spannend, doppelsinnig, zum Teil extrem konstruiert, aber voller Seitenhiebe auf die Wirklichkeit und voller Offenheit. Eine »Intruder«-Geschichte, wie das in Hollywood genannt wird: Die Geschichte über einen Eindringling, der in der Welt der
Hauptfigur das Kommando übernimmt. Zugleich ein Film über falsche Freundschaft und sogenannte Frauenängste, oder das was man gern dafür hält: Hysterie, Blockaden, bipolare Störungen.
Die sich zunehmend zuspitzende Thrillerhandlung dient da mehr als ein Gerüst, um die verschiedenen Elemente zusammenzuhalten, ohne dass der Film allzu offensichtlich konstruiert erscheint.
Polanski nutzt dieses Gerüst auch zu seinen gewohnt bissigen sarkastischen Kommentaren über den Zeitgeist, über urbane Einsamkeit und den Therapiewahn unserer Gegenwart, die Lust, alles und jedes auf die Couch zu legen und zu therapieren. Der Regisseur spottet auch über Fans, oder darüber dass das Publikum heute keinen Sinn mehr für Phantasie und Fiktion habe, dass alle nach »Realität« hungern – allerdings nur nach der, an die sie selber glauben möchten. Und er spottet über die Kunst, in Dialogsätzen wie diesem: »Alle Schriftsteller verwerten Sachen aus der Zeitung.«
Vor allem ist dies ein selbstreflexiver Film über die kannibalistische Natur aller Künstler. Sie gehen über Leichen, auch die eigene, um ihre Kunst zu machen. Sie saugen dafür alles, ihr Leben und jede ihrer Erfahrungen gnadenlos aus: Denn irgendwann beginnt Delphine Elle zum Gegenstand ihres neuen Buches zu machen. So dreht sie den Spieß um, übernimmt die Macht in der Beziehung.
So ist jede Kunst wie auch dieser Film ein doppeltes Vexierspiel: Denn wie ganz zu Beginn, so gibt es auch am Ende des Films wieder eine Signierstunde. Und das neue Buch heißt »D’après une histoire vraie« – wie der Film im Original. Aber auch wie die Buchvorlage von Delphine de Vigan. Und dessen Autorin heißt mit Vornamen genau so, wie die Hauptfigur des Romans.
So ist dieser Film vor allem ein ungemein intelligenter Spaß, ein psycho-logischer Exkurs über das Schreiben
und Nicht-Schreiben.