Frankreich/USA/GB 2014 · 181 min. · FSK: ab 0 Regie: Frederick Wiseman Drehbuch: Frederick Wiseman Kamera: John Davey Schnitt: Frederick Wiseman |
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Im großen Museum |
»Velazquez, Pissarro, Rubens, Picasso, Holbein, Stubbs, Bellini, Caravaggio, Michelangelo, Vermeer, Leonardo da Vinci...« – Portraitbilder, Schlachten, Verführungsszenen, der ungläubige Thomas und der wiederauferstandene Gottessohn. »Samson und Delilah« von Rubens... in wenigen, schnell geschnitten aufeinanderfolgenden Aufnahmen zu Beginn zieht dieser Film seine Zuschauer in eine andere Welt.
Doch dann hören wir plötzlich sehr irdische Geräusche: Ein Mann vom Putzkommando, der den Boden poliert, ist der erste Mensch, den man sieht. Die Bilder und die Menschen, sie sind für Frederick Wiseman, diesen Humanisten des Kinos und engagierten Filmemacher, nicht voneinander zu trennen.
Der inzwischen 84 Jahre alte Wiseman ist Amerikaner und einer der weltweit gefeiertsten Dokumentarfilmregisseure. Er ist Spezialist für Portraits von Institutionen: Krankenhäuser, Schulen, Polizeieinheiten, Behörden, aber auch ein Boxstudio, eine Fleischfabrik und zuletzt das Pariser Nachtlokal »Crazy Horse« sind die Gegenstände seiner Filme. Sein Stil ist dabei einerseits puristisch: Wiseman verzichtet auf Interviews und einordnende, die Bilder begleitende oder
Fakten nachliefernde Erklärungen, es wird auch nichts nachträglich oder überhaupt nur für die Kamera inszeniert – wie sonst fast immer im angeblich ach so authentischen Dokumentarfilm der Gegenwart.
Kommentare anderer Art gibt es allerdings sehr wohl: Sie liegen im Blick auf die Dinge und vor allem in der Auswahl der Bilder, in ihrer Zusammenstellung und in der Entscheidung wer hier überhaupt und mit welchen Sätzen zu Wort kommt: »Art is about music, film,
philosophy, science. It’s about life! Anything you are interested in goes into art. And that’s why I became an artist.«
In seinem neuen Film über die Londoner National Gallery, auch eine Institution, aber mehr noch einer der bedeutendsten Kunsttempel der Welt, zeigt Wiseman auch einmal recht früh die offene Verachtung des Musumsdirektors, des Kunsthistorikers Nicholas Penny, für seine PR-Beraterin, als die vorschlägt, man solle das Museum »zuschauerfreundlicher« machen – das sei ein Codewort für dümmer. Wiseman verbringt für seine Projekte mehrere Monate am Drehort, in diesem Fall waren es zwölf Wochen. Und er zeichnet dabei mehrere hundert Stunden Filmmaterial auf, aus denen er dann im Schneidestudio seine Werke komponiert – nicht anders, als ein Maler, der grundiert, mehrere Farbschichten übereinander legt.
Es hat in den letzten zwei Jahren überraschend viele Kino-Dokumentarfilme über Museen gegeben: Das große Museum über das Wiener Kunsthistorische Museum, Wim Wenders' et al. Kathedralen der Kultur unter anderem über die Herimitage von St. Petersburg waren nur die letzten, ein Film über das frischrestaurierte Amsterdamer Rijksmuseum hatte erst vor wenigen Wochen auf der Amsterdamer IDFA Premiere.
Was unterscheidet
Wisemans Film über die Londoner National Gallery von diesen Werken? Es ist sein Blick.
Ja, es gibt sie auch hier, die heilige Stimmung, mit der wir gewohnt sind, im Abendland, wie man neuerdings wieder gern sagt, Kunst anzuschauen: Ehrfürchtig, andachtsvoll, distanziert – wie etwas Fernes, Fremdes. Sie gehört zum Kitsch solcher Filme. Doch sie hält sich in engen Grenzen, sie wird vom Regisseur sogar selbst durchkreuzt: »Die Anbetung des Goldenen Kalbs« – dieses Gemälde von Nicolas Poussin ist eines derjenigen, die Wiseman mehrfach und besonders lang und genau zeigt. Dieses Goldene Kalb ist heute die Kunst.
Die Kunst und die Kunstwelt, die dieser Film zeigt, verbindet nichts mit den in immer weitere, astronomische Höhen steigenden Preisen auf Kunstauktionen, nichts mit Gemälden als Kapitalanlage, und auch nichts mit all den manchmal hysterisch geführten Debatten um Beutekunst und anderes Drumherum – all das, so argumentiert Wisemans Film, lenkt von den Werken selbst nur ab. Und von den Menschen, um die es geht: Den Künstlern und den Kunstliebhabern im Publikum und unter den Menschen, die ein Museum wie die National Gallery überhaupt erst möglich machen.
Wiseman verzichtet auf die dynamischen Kamerabewegungen, die mit dem Zuschauer Achterbahn fahren, er will keinen Schwung, oder Flow, sondern allenfalls ab und an mal Trance.
Mehr aber interessieren ihn die Brüche und Kontrapunkte. Sowie kleine Wow-Momente.
Wiseman blickt nämlich ausführlich auch auf die Welt hinter der großen Kulisse des Ausstellungsaales. Auf Arbeiter, Kuratoren, Wissenschaftler und Restauratoren. Dies ist ein besonders interessanter Teil: Wir sehen das Handwerk, sehen die Röntgendurchleuchtung von Bildern, hinter denen ab und zu mal ein zweites auftaucht, oder eine Skizze.
Zu solchen Szenen wird man Zeuge geradezu genialer Miniaturen in Wissensvermittlung über Kunstgeschichte. So zeigt der Film Kunst als
Erfahrung in all ihren Facetten, als alltägliche menschliche Tätigkeit. Er nimmt Partei cum ira et studio, und er will – ganz entgegen Wisemans theoretisvher Position als Vertreter des Direct Cinema – seinem Publikum eine Botschaft nahe bringen: Es ist die Liebe zur Kunst um ihrer selbst willen.
Als einmal von Leonardo die Rede ist, erklärt ein Kunsthistoriker, warum dessen Bild der »Madonna in der Felsengrotte« eine »wunderbare Mischung aus Beobachtungsgabe und Phantasie« sei. Beobachtungsgabe und Phantasie – diese Verbindung ist auch die Kunst von Frederick Wiseman. In solchen Szenen entpuppt sich sein Film als ein Werk über die Kunst des Sehens und über das richtige Sehen der Kunst.
Europa lockt! Spätestens, wenn ein amerikanischer Intellektueller einen gewissen Reifegrad erreicht hat, zieht es ihn mit aller Macht in die Alte Welt, so auch den 84-jährigen Dokumentarfilmer Frederick Wiseman. Wiseman ist ein unermüdlicher Vielfilmer, der seit Jahrzehnten im Schnitt einen Film pro Jahr dreht. Dabei erweitert er Jahr für Jahr seinen Horizont. Bereits sein erster Film Titicut Follies (1967) zeigte die unsäglichen Bedingungen in einem Sanatorium für Geistesgestörte und ließ somit die Luxusneurosen gutgestellter New Yorker Intellektueller, wie sie bei Vielfilmer Woody Allen immer wieder aufs neue zu finden sind, weit hinter sich zurück. Im September erhielt Wiseman auf dem Filmfest in Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Das ist bemerkenswert, da Wiseman ausschließlich Dokumentarfilme dreht.
National Gallery ist sein 42. Werk. Wie alle Filme des Amerikaners, ist auch diese fast drei Stunden lange Dokumentation über das gleichnamige weltberühmte Londoner Museum im Direct-Cinema-Stil gedreht. Der Filmemacher verzichtet auf all die bei vielen Dokumentarfilmen störenden Elemente, wie endlose Abfolgen sprechender Köpfe und enervierend schulmeisterlicher Kommentare aus dem Off. Stattdessen verschwindet Wiseman vollkommen im Hintergrund und lässt seine mit einer Steady Cam direkt vor Ort gemachten Aufnahmen und die vielen auf diese unaufdringliche Art gefilmten Protagonisten für sich selbst sprechen. Das hat den Effekt einer gesteigerten Authentizität und führt dazu, dass der Zuschauer zum eigenständigen Denken angeregt wird.
Dies bedeutet nicht, dass Wiseman selbst keine eigene Meinung zu dem Gezeigten hätte. Doch ist das von ihm in 170 Stunden zusammengetragene Material derart reichhaltig, dass ein jeder Betrachter ein wenig andere Dinge herausholen bzw. hineinlesen kann. Ein Rezensent spricht davon, dass es Wiseman immer wieder um das Thema Geld gehe. Ein weiterer sieht einen umfassenden Snobismus der Museumsbetreiber als Subtext. Ein dritter hebt die Betonung der Ursprünge des Museums aus einem durch Sklaverei gemachten Vermögen hervor. Doch Wiseman interessiert sich nur am Rande für die organisatorischen Aspekte des Museumsbetriebs. Sein Fokus liegt auf den ausgestellten Bildern selbst. Hierbei bedient Wiseman sich eines sehr filmischen Ansatzes. Er wechselt beständig von der Totalen – wobei er den einen formalen und inneren Abstand schaffenden Bilderrahmen bevorzugt ausblendet – zu Nahaufnahmen und zurück. So erweckt er die Werke der Alten Meister zum Leben und beweist, dass diese keine alten Schinken sind.
Dies steht im starken Kontrast zur Ben-Stiller-Komödie Nachts im Museum. Deren dritter Teil – ebenfalls den Sprung über den großen Teich in die Alte Welt machend – die Exponate des British Museum ganz konkret zum Leben erweckt. Dahinter steckt die Grundidee, dass Museen in der Tat der Inbegriff des Verstaubten und Toten darstellen. Der wichtigste Subtext von National Gallery lautet deshalb, dass Wiseman dies entschieden anders sieht. Diese Ansicht teilt er mit den engagierten Museumsführern der National Gallery. Diese bringen genau diese Botschaft an den Mann, die Frau, das Kind und sogar an den Blinden. Sie betrachten das alterwürdige Museum als einen Ort, der voller Geschichten steckt. Eine Führerin betont, dass eine mittelalterliche religiöse Szene auf die damaligen Menschen eine sehr starke Wirkung gehabt haben muss, da jene oft Analphabeten waren und in bitterer Armut lebten. Solche Bilder hatten folglich tatsächlich die Aufgabe Geschichten zu erzählen, da die Mehrheit der Menschen schlicht nicht lesen konnte.
Eine weitere faszinierende Ebene der in diesen Werken gespeichten Geschichten tut sich in Form der mit den Bildern selbst verbundenen Geschichten auf. So wurde ein Frauenportrait extra vom besten Maler der damaligen Zeit – dem Deutschen Hans Holbein dem Jüngeren erstellt – um den König von England zur Heirat der Abgebildeten zu bewegen. Um Holbeins Doppelbildnis »Die Gesandten« ranken sich besonders mysteriöse Geschichten. Ein Historiker glaubt sogar, dass es sich bei dem Gemälde um die bildliche Dokumentation eines Mords handelt. So reiht sich eine Geschichte an die nächste und so verschmilzt Geschichte im Sinne von Historie unauflöslich mit Geschichten in Form kleiner Anekdoten. All diese Geschichten werden von den Museumsführern aufgegriffen und voller Begeisterung an die Museumsbesucher weitergegeben.
Neben den ausgestellten Bildern sind diese Führer die zweiten Hauptdarsteller in National Gallery. Dieser besondere Aufmerksamkeitsfokus Wisemans erscheint verständlich. Schließlich entspricht die Rolle der Führer im Museum der Wisemans im Kino. Auch der Dokumentarfilmer ist ein genauer Betrachter und ein Vermittler des Betrachteten. Nur erfasst Wisemann nicht bloß ein einziges Gemälde, sondern gleich das gesamte Museum. Aber immer geht es ihm darum, die Bilder zum Sprechen zu bringen und zusätzlich die mit diesen Bildern verbundenen Geschichten zu erzählen. Auch wenn ein für das Museum tätiger Restaurator gezeigt wird, spricht der nur dann von den technischen Details seiner Arbeit, wenn diese für die Geschichte des restaurierten Bildes relevant sind. So offenbart die Röntgenaufnahme eines Reiterbildnisses von Rembrandt, dass der Maler das gleiche Portrait bereits zuvor einmal um 90 Grad gedreht auf der gleichen Leinwand begonnen hatte. Dies erklärt weshalb bei vorherigen Restaurationen beim Entfernen von Firnis nur schwer deutbare Farbschichten zum Vorschein kamen.
Fragen der Kostenplanung und des Marketings interessieren Wiseman nur insofern, als dass sie zu einer weiteren Geschichte im übergreifenden Thema der Kunstvermittlung werden. Statt lange den eloquenten Ausführungen auf Museumsmangermeetings zu folgen, begibt sich Wiseman lieber zu einem museumsinternen Aktzeichenkurs oder zu einem Kunstkurs speziell für Blinde. Dort liegen gerade abtastbare Abbildungen eines Gemäldes des französischen Impressionisten Pissaro aus. Es zeigt sich somit, dass die National Gallery trotz allem Snobismus seine Mission der Kunstvermittlung derart ernst nimmt, dass dort sogar Blinde sehen lernen. Ein ähnliches Wunder vollbringt Frederick Wiseman mit dieser herausragenden Dokumentation.