I/B 2017 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Susanna Nicchiarelli Drehbuch: Susanna Nicchiarelli Kamera: Crystel Fournier Darsteller: Trine Dyrholm, John Gordon Sinclair, Anamaria Marinca, Sandor Funtek, Thomas Trabacchi u.a. |
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Nach dem Glamour |
»Don’t call me Nico. Call me by my real name, Christa.« So sagt Christa Päffgen also known as Nico zu einem Journalisten, dem sie auf ihrer letzten Konzerttour durch Europa ein Interview gibt. »My life started after the experience with the Velvet Underground«, betont sie. Für Velvet Underground war sie, die aus Köln stammende Berlinerin, die Muse, Sängerin und Tamburin-Schwingerin, bevor sie ein Chelsea Girl in Andy Warhols Factory wurde, als Nachfolgerin der verstoßenen Edie Sedgwick. Ihr »echtes« Leben, so sagt sie also, fing an, als sie mit ihrer eigenen Musik begann. Mit ihrer tiefen Stimme hatte sie zwar »All Tomorrow’s Parties« seinen Sound gegeben, durfte aber ansonsten nur Glamour und Background-Girl sein. Ihre Solo-Karriere war so auch eine Emanzipationstour aus der Business-Welt, in der die Männer die Frauen »machten« – und Christa Päffgen zum ersten Supermodel der Nachkriegsgeschichte, zum Superstar bei Andy Warhol, zur Sängerin bei The Velvet Underground.
Die italienische Regisseurin Susanna Nicchiarelli, die bei Nanni Moretti gelernt hat, Biographisches auf unkonventionelle Art zu erzählen, taucht in das letzte Lebensjahr von Nico-Christa ein. Es ist 1988, kurz vor dem 50. Geburtstag der einstigen Schönheitsikone. »Bin ich hässlich?«, fragt sie in einer Szene ihren Tour-Begleiter. »Ja.« – »Gut. Als ich schön war, war ich nie glücklich.« Im Jahr 1988 hat Nico-Christa langes, ungekämmtes braunes Haar. Gespielt wird sie von der dänischen Schauspielerin und Sängerin Trine Dyrholm, bekannt aus dem Dogma-Umkreis von Das Fest, die selbst die Lieder singt. Erstaunlich, dass dies funktioniert, Dyrholm singt ergreifend gut, mit tiefer Nico-Stimme.
Der Film folgt diesem letzten Jahr im Leben der Ausnahme-Sängerin als rastloses Roadmovie, das vom Motor der Musik regelrecht angetrieben wird. Immer wieder greift die Montage vorweg, gibt den Szenen Zusammenhalt, ohne je nur Konzertfilm zu sein. Man badet im Sound – und im Bild, das im historischen 4:3-Format geframed ist. Es evoziert wie ein beiläufig gedrehtes, authentisches Tourtagebuch das 16mm-Material der Factory und frühe Videos der 1980er.
Über allen Szenen von Nico, 1988 liegt eine faszinierende Morbidität, wie der Staub in den Ecken der teils heruntergekommenen Locations, in denen die »Priesterin der Finsternis«, wie die Wegbereiterin von Gothic und Punk auch genannt wurde, auf ihrer Tour auftritt. Eine dunkle Tiefe umfängt diese Seelennacht, und die Sehnsucht nach dem drogensüchtigen Sohn, der nicht bei ihr aufwachsen durfte, nach menschlicher Nähe, nach einem normalen Leben als Künstlerin, ohne den Fluch der ruhmvollen Vergangenheit.
Nico, 1988 ist kein Biopic. Als Momentaufnahme der letzten Tage eines weltberühmten Stars erscheint der Film so auch wie ein Echo zu 3 Tage in Quiberon über das letzte Interview der Romy Schneider. In beiden Filmen steht eine Ikone im Mittelpunkt, die sich aus den Determinanten ihres Ruhms befreien möchte. Hier Nico-Icon, die wieder Christa Päffgen sein will, dort Romy Schneider, die für alle, die nicht mitbekommen haben sollten, dass sie eine Karriere im anspruchsvollen französischen Autorenkino hingelegt hat, dazusagen muss, dass sie nicht Sissi ist. Die Filme sind gleichermaßen atmosphärische Tiefgänge in das letzte Lebensjahr ihrer melancholischen, drogentrunkenen Stars. Beide sind außerdem biographisch mit Alain Delon, dem Homme fatal, verbunden. Für Romy Schneider war die Liebe zum französischen Beau Anlass, in Frankreich ein neues Leben zu beginnen, das war 1958. Schon drei Jahre später wurde Delon der Vater von Christa Päffgens Sohn Aaron, der, auch wenn von Delon nie anerkannt, bei dessen Eltern aufwuchs. Beiden, Romy und Christa, war das Sorgerecht für ihre Söhne entzogen. Aufgrund ihrer Sucht, vielleicht aber auch wegen ihrer Lebensführung, die sich für die Gesellschaft der 1960er Jahre als skandalös und atemberaubend ausnahm und schlichtweg nicht hinnehmbar war.
Susanna Nicchiarelli lässt in ihrem Roadmovie formal mehr Freiheiten zu als dies Emily Atef ihrem Film, einem Huis-Clos von täuschend echten Reinszenierungen nach Fotos, möglich war. Beide, 3 Tage in Quiberon und Nico, 1988, lassen jedoch die Frau hinter dem weiblichen Star pulsieren und sie als eigenständig, selbstbestimmt, zweifelnd und dennoch immer aufrecht erscheinen: Die Stars verlassen die Factory.