Deutschland 2021 · 116 min. · FSK: ab 16 Regie: Sabrina Sarabi Drehbuch: Sabrina Sarabi Kamera: Max Preiss Darsteller: Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Giese, Andreas Döhler, Elisa Schlott u.a. |
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Allein auf weiter Flur | ||
(Foto: Filmwelt) |
Hoch auf dem Traktor zu sitzen und bei einer sanften Sommersonne das weite Feld zu bestellen, mag für manche eine romantische Vorstellung sein. Eins sein mit der Natur, das Leben direkt an der Scholle zu verbringen, dort, wo die Existenz beginnt. Niemand ist bei den Kälbern zerstört derartige Landlust-Fantasien gleich zu Beginn. Jan, der junge Bauer auf dem Traktor, zieht ein Rehkitz aus den Ackerfurchen hervor, er hat es unter dem Gewicht der schweren Maschine begraben. Ihn kümmert es nicht, dass es sich noch bewegt. Er schleift es zum Waldrand, und weiter geht die Arbeit auf dem Traktor. Auch Frauenherzen werden von dem verletzten Tier nicht gerührt: Christin sitzt neben Jan auf dem Traktor, die Unterbrechung nervt sie. Ihr Interesse gilt den Arbeitern, die etwas an einem der Windräder zu tun haben. Männer, die sie nicht kennt, was machen die da?
Das verendete Rehkitz ist nicht das einzige Wesen, dem es in Sabrina Sarabis zweitem Film Niemand ist bei den Kälbern schlecht geht. Ihre Drehbuchvorlage ist der gleichnamige Roman von Alina Herbing, in dem diese autobiographisch grundiert vom trostlosen Leben im Landstrich von Nordwestmecklenburg, irgendwo zwischen Lübeck und Schwerin, erzählt und damit einiges an Aufsehen erregt hat. Eine der unschönen Wahrheiten ist, dass die Menschen auf dem öden Land – dabei ist es fast schon egal, ob im abgelegenen Osten oder fränkischen Hinterland – vorzeitig altern. Jan und Christin sind eigentlich ein junges Paar, und doch wirken sie wie alte Ehegatten. Es gibt kaum Berührungen oder einen Blickwechsel zwischen den beiden, die Gespräche sind auf Null zurückgefahren. Zu klären, wer wann in den Stall geht, dafür braucht es nicht viele Worte. Schwierig ist es außerdem, wenn der eigene Mann zugleich der Chef ist, der einem anschaffen kann und man noch dazu unter dem Dach des Schwiegervaters wohnt – und man selbst dessen Lebensentwurf folgen soll.
Das Unausgesprochene und Unterdrückte findet in Christins Körper ein Ventil, über den sich der angestaute Drang in einem sexuellen Eskapismus entladen will. Unterschwellig aufgeladen absolviert Christin die Hundstage des Hochsommers mit diffuser Libido. Saskia Rosendahl, die in Locarno mit dem Preis als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, verleiht ihrer Figur eine Mischung aus abgetörnter Langeweile und unberechenbarer Neugier, sie spielt eine vibrierende junge Frau mit leuchtend-stahlblauen Augen und einem angespannten Körper, irgendwie notgeil und dann doch unfassbar haltlos in ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben. Jede Regung ist in ihrem Gesicht ablesbar, ihre Hoffnung, ihre Langeweile, ihre verquirlten Ideen, die ihr plötzlich kommen.
Was ihre Träume sind, fragt sie einmal der Windrad-Arbeiter (Godehard Giese), mit dem sie später harten Sex in einer verlassenen Scheune haben wird. Er hat ein anderes Leben, fährt mit seiner Familie an die See, in den Urlaub. Das gibt es für Christin nicht. Sie will »was eigenes«, sagt sie, vielleicht einen Laden. Was für einen Laden, fragt er sie zurück, sie weiß es nicht. Und dennoch muss es einen Moment gegeben haben, in dem das Leben auf dem Bauernhof wie ein Ausweg aus der Misere erschien. Der Vater ist schwerer Alkoholiker, erfährt man in einer ungeschönt sozial-realistischen Szene, aufgewachsen ist sie in einer deprimierenden Sozialwohnungssiedlung, mit Pitbull-Terriern und Neonazis, die das nur sind, so deutet es zumindest der Film an, weil ihnen sonst nichts für ihr Leben einfällt. Sie und auch Christin brauchen den starken Reiz in einem sinnentleerten Leben, brauchen den Sex ohne Liebe, den Griff zum Kirschlikör, das Ausbrechen, und sie provozieren, weil sie nicht tun, was die anderen von einem erwarten.
Wie in Valeska Grisebachs Sehnsucht (2006), einem der ersten neuen deutschen Heimatfilme, die vom Leben junger Erwachsener in der Provinz erzählen, meidet Sabrina Sarabi klischeehaften Szenen, die erzählen könnten, dass das Leben auf dem Land vielleicht doch auch irgendwie schön sein könnte. Das Melken im Stall, wie insgesamt der Kontakt zu den Tieren, ist mechanisch und routiniert, es gibt, anders als in Filmen, in denen es sich die Städter auf dem Land einrichten, keine üppig gedeckten Tische mit gutem Essen oder philosophische Abende am Lagerfeuer. Das Dorffest mündet bei den Männern in einen Rausch, an dem nichts mehr berauschend ist, und in vielen Szenen ist Christin die einzige Frau. Was auch ein Hinweis dafür ist, dass die Dorffrauen mit der Hausarbeit und dem Kinderkriegen beschäftigt sind. Christin, die immerzu das Haus verlässt, ist allein unter Männern.
So erzählt Niemand ist bei den Kälbern auch von der Pflichtvergessenheit und dem Ablehnen traditioneller Rollenzuweisungen. Ungestillt sind die unbestimmte Sehnsucht und sexuelle Lust, die dagegen sprechen, sich dem Landleben zu fügen. Christin ist immer auf dem Sprung, in auffällig knapper Sommerkleidung, die viel Beinfreiheit lässt und die sich schnell ausziehen lässt. Aber egal, ob an-, aus- oder umgezogen, Hauptsache, die Dinge bleiben im Fluss. Die immer leicht bewegte Handkamera von Max Preiss, der auch schon Sarabis Debüt Prélude fotografiert hat, verleiht Saskia Rosendahls Performance eine sinnliche Mischung aus Unsicherheit und Zielgerichtetheit. Christin lässt sich unberechenbar und sprunghaft durch einen flirrenden Sommer treiben, in dem sie weder Halt noch Orientierung finden kann. Wohin sie aber will, weiß sie: raus aus diesem Leben, Hauptsache weg.
Kühe, Felder, Sonne, Weite... Man könnte sagen: Dies ist ein deutscher Western, mit fast richtig großen Landschaftsbildern, Bildern mit einer Weite, die einen sogar ab und zu an Amerika denken lassen.
Allerdings nicht an das Amerika von John Ford und Howard Hawks, sondern an das Amerika von Andrea Arnold. Denn im Zentrum steht eine junge, sehr zeitgemäße Frau, und weil alles heute spielt, nicht zur Zeit der Cowboys und Indianer, sind die Träume und Utopien zwar noch präsent, aber nur noch unter dem Pflaster einer grundsätzlichen Tristesse. Sie ist das Thema. Landdepression. Die Träume der Provinz. Diffuse Sehnsucht.
Die Menschen sind wortkarg, sie fressen viel in sich hinein. Die Geschichte erzählen ihre Gesichter. Im Zentrum steht Christin. Eine junge Frau Anfang zwanzig.
Ihre Welt liegt irgendwo zwischen Hamburg, der Ostsee und Berlin. Im Kühlschrank gibt es viel Wurst und auch viel Zitronenlimo. Fast alle im Dorf sind Bauern. Überall ist Frust, überall ist auch latente Aggression, überall gibt es auch eine Flasche Schnaps, die einen über das Schlimmste hinwegtrösten kann. So sonderbare Getränke wie Alkohol mit süßen Kirschen, Alkohol mit noch süßerer Zitrone.
Daneben ist das Outfit für viele Figuren alles, was sie haben. Auch Christin achtet immer sehr aufs Outfit. Diese Figur zieht sich in diesem Film fortwährend um, und die Unsicherheit wie die Fixierung auf Äußerliches sind das, was sie ausmachen.
Saskia Rosendahl gibt dieser scheinbar oberflächlichen Figur Würde, Tiefe und Charme. Man liebt sie schnell, hält zu ihr.
Was tut sie den ganzen Tag? Sie macht die Kälber. Sonst nicht viel. Genaugenommen langweilt sie sich unendlich und tröstet sich mit kleinen Fluchten: Der Spontantrip nach Hamburg, der Griff zur Flasche, die anderen Männer, Tagträume.
Aber etwas muss passieren. Sie muss weg. »Man kann ja nicht ewig in diesem Kaff bleiben...« findet auch Christins beste Freundin.
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Regisseurin ist Sabrina Sarabi, 1982 im nordhessischen Kassel geboren, aufgewachsen im besonders westdeutschen Krefeld. Ab 2006 studierte sie an der Kölner KHM Film, nachdem sie zuvor bereits in Utrecht eingeschrieben war und parallel am Amsterdamer Konservatorium Geigenunterricht genommen hatte. Jetzt wohnt sie in Berlin. Niemand ist bei den Kälbern ist Sarabis zweiter Spielfilm; ihr erster war der gute, ganz andere Prélude, der vielleicht deswegen bei allen Stärken nicht hundertprozentig gelungen war, weil Sarabi hier Erfahrungen mit dem Musikunterricht verarbeitet hat, die ihr selbst zu nahe standen. Jedenfalls ist der zweite Film eine deutliche Weiterentwicklung.
Er geht zurück auf Alina Herbings gleichnamiger Erfolgsroman, der vor knapp fünf Jahren erschien, und fernab von jeder Landlust-Idylle ein
Portrait nordostdeutscher Provinz-Generationen zeichnete, und ein Frauenportrait ist, das zwischen Widerstand und Frust oszilliert. Zu dem Roman kam die Regisseurin durch einen Tipp ihrer Produzenten, den Weydemann-Brüdern. Es gibt Unterschiede gegenüber der Vorlage, vor allem hat die Regisseurin, die auch das Drehbuch geschrieben hat, die Ebene der Rückblenden und der Vergangenheit der Hauptfigur komplett gestrichen. Und während der Roman in der Ich-Form der ersten Person
Singular erzählt ist, kommt die Verfilmung ohne Erzählstimme aus.
Premiere war 2021 in Locarno. Die Schauspielerin Saskia Rosendahl gewann für ihre Rolle beim Festival von Locarno den Preis als beste Darstellerin.
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Etwa in der Mitte des Films gibt es ein Gespräch mit Klaus, dem Mechaniker der Windräder, die hier schon aus den Feldern schießen, und der, man ahnt das schnell, ihr Liebhaber werden wird.
»Wovon träumst denn du?« fragt Klaus sie. Und dann: »Bist nicht gern da?« – »Nee.« – »Und warum machst du nichts anderes?« – »Ich kann nichts anderes.« – »Das glaube ich nicht.« – »Ist aber so.«
Ein toller Ausdruck ist es, der jetzt in Saskia Rosendahls Gesicht erscheint. Das ist ein Moment, wo man ziemlich viel von ihrer Schauspielkunst sieht, wobei man gar nicht so sicher sein kann, ob sie jetzt viel macht und bewusst, oder eher wenig und instinktiv. Und wo man auch gar nicht genau weiß, was sie da macht. Aber genau dieses Rätselhafte macht die Faszination. Man weiß jetzt nur: Es ist alles richtig.
In diesem Ausdruck steckt die ganze Hilflosigkeit, und die ganze
Sehnsucht und die ganze Würde einer Figur, die eigentlich nicht weiß, was sie will. Die nur weiß, dass sie weg will und dass sie das nicht will, was sie hat, und die weiß, dass sie jetzt, wenn nicht heute dann morgen, möglichst bald diesen Mann will, obwohl sie zugleich ahnt, dass ihr das auch nicht gut tut.
Mehr als bei vielen anderen Auftritten der immer großartigen, seltsam und unergründlich faszinierenden Rosendahl stellt sich hier auch die Frage: Wie erarbeitet man sich diese Figuren, jenseits des ohne Zweifel massiv vorhandenen Bauchgefühls?
Die Art, wie uns diese Figur der Christin von der Hauptdarstellerin und der Regisseurin nahe gebracht wird, hat etwas extrem Körperliches. Man sieht, wie Christin (nicht zu verwechseln mit Rosendahl) sich bewegt, wie sie sich vor den
anderen bewegt, wie sie ihren Körper zeigt. Wie sie ihren Körper manchmal aber auch vergisst, wenn nicht die Familie zuschaut, oder fremde Männer, sondern die Kälber.
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»Wovon träumst denn du?« fragt er jedenfalls. Sie antwortet nach langer Pause: »Irgendwas in der Stadt. Eigene Wohnung.« Und dann nach noch längerer Pause: »Ist doch egal.«
Es ist etwas extrem Schmerzhaftes, Trauriges in diesem Moment, der ja vor allem ausdrückt, dass Christin ihren eigenen Träumen schon längst nicht mehr glaubt. Hier kommt mal etwas zur Sprache, was sonst verdrängt und unterdrückt wird. Viel tiefer kann man sonst bei ihr nie blicken.
Solange sie noch mit Klaus flirtet, ist es tatsächlich doch noch ein Versprechen auf ein anderes Leben. Wenn sie dann mit ihm eine Affäre hat, ist es mit dem Versprechen schnell vorbei.
Es gibt merkwürdige Momente auch für diese Figur von Klaus, wo er nämlich fast väterliche Verhaltensweisen an den Tag legt. Wo er die Tochter in ihr zu sehen scheint. Damit wird es mit der Zeit aber immer brüchiger. Und er ist sich selber immer weniger sicher, wohin die ganze Sache führt, für sie
beide. Was diese Frau, die fast noch ein Mädchen ist, von ihm will.
Klaus, triftig gespielt von Godehart Giese, lächelt oft, aber es ist manchmal auch offensichtlich ein falsches Lächeln, und als Zuschauer rätselt man: Kommt sich dieser Mann wirklich so toll vor, wie man glaubt, dass er sich toll vorkommt?
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Was Christin vor allem will, ist weg. In Bewegung kommen. Egal wohin. Das hat lange etwas Selbstzerstörerisches. Christin trägt Gewalt in sich. Gegen sich wie andere. Es hat etwas Schlafwandlerisches, wie sie dem Hund das Rattengift gibt.
Am Ende schafft sie doch den Absprung, nicht ohne Verluste allerdings.
Ein letztes Rätsel kreist um das Feuer. Die Spur des Feuers in diesem Film ist wichtig. Es gibt einen Feuerteufel. Es werden Spuren gelegt, wer daran Schuld tragen könnte: Klaus raucht immer viel, Christin spielt mit Streichhölzern. Ist es sicher, dass einer von beiden das Feuer gelegt hat? Ist es klar, dass Christin das Feuer gelegt hat? Oder doch Klaus, bevor er weggefahren ist?
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Niemand ist bei den Kälbern ist ein sehr atmosphärischer Film, bei dem man die Sommerhitze, alle Mücken und alle Schweißtropfen zu spüren glaubt.
Vieles in diesem Film passiert im Nichts – und es ist eine große Kunst der Filmemacherin und ihres Teams, dieses Nichts fassbar zu machen, ihm Raum zu geben.
Die Frauen gehen, die Bauern bleiben in diesem schönen, stimmungsvollen, ungewöhnlichen deutschen Film. Die Regisseurin inszeniert genau und lakonisch, mit viel Sinn für Atmosphäre. So ist ein Heimatfilm aus der Provinz entstanden, schmerzhaft, zerrissen, und gerade darin ein frühes Highlight des neuen Kino-Jahres.
Am Ende steht ein Aufbruch. Ein Aufbruch nach Nirgendwo. Aber besser als kein Aufbruch.