Frankreich/D/B 2016 · 130 min. Regie: Bertrand Bonello Drehbuch: Bertrand Bonello Kamera: Léo Hinstin Darsteller: Finnegan Oldfield, Vincent Rottiers, Hamza Meziani, Manal Issa, Martin Petit-Guyot, Jamil McCraven u.a. |
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Durchzogen von Gedankenlosigkeit? |
Muss Revolution eigentlich immer blutig sein? Müssen politische Kämpfe immer scheitern? Ist terroristischer Akt denn immer sinnlos? Was und wie dachte man doch gleich in den 1970er Jahren darüber?
Bertrand Bonello ist ein Liebling der Kritiker. Sie schätzen sein »ausgeprägtes Gespür für das Schöne« und seine Bereitschaft zur Oberflächlichkeit (zuletzt: Saint Laurent). Jetzt hat er mit Nocturama einen Oberflächenfilm über eine Gruppe Jugendlicher gemacht, die einen konzertierten Bombenanschlag auf Paris ausführt (inklusive der zweifelhaften Zweitverbrennung der Jeanne d’Arc, der von allen möglichen Gruppierungen vereinnahmten Symbolfigur Frankreichs). Anschließend verstecken sie sich in einem Luxus-Kaufhaus, um am nächsten Tag wieder nach Hause gehen zu wollen, wenn sich die größte Aufregung gelegt hat. Hanebüchener Plot eines Films, der sich ziemlich gut anlässt, mit schnellen Schnitten, und einem Thrill, der aus raschen Blick- und Metrowechseln und Detailaufnahmen auf Hände und Handys à la Bresson erwächst. Ein diffuses Ensemble aus lose zusammenhängenden Figuren, die eine gemeinsame Sache machen. Soweit ist alles klar. Und tolles Genrekino.
Eine völlig überflüssige Rückblende durchbricht dann den aus sich selbst heraus wachsenden Film: Wir erfahren, wer diese Jugendlichen sind, ihren sozialen Status, und wie sie sich kennengelernt haben. Motivation für den aufwendigen Bombenanschlag sollen Langeweile und soziale Randständigkeit sein, wird suggeriert. Oder vielleicht ist bei denen was im Kopf nicht in Ordnung? So lässt Bertrand Bonello zumindest denjenigen aus der Gruppe zweifeln, dem eine tolle Karriere bevorsteht, mit Studium an der französischen Elite-Uni ENS und Praktikum beim Innenminister. Letzteren haben sie jetzt in die Luft gejagt, und – oh Schreck – er wurde ernsthaft verletzt.
Gerne kann man die gute Portion Naivität als Portrait einer orientierungslosen Jugend betrachten, der Film insgesamt aber ist durchzogen von Gedankenlosigkeit. Unabhängig davon, dass erst nach dem Pariser Anschlag auf Charlie Hebdo im Januar 2015 mit den Dreharbeiten begonnen wurde und vor den konzertierten Anschlägen im November 2015 schon der Rohschnitt stand, wie Bonello erzählt (als hätten zu keinem Zeitpunkt diese Ereignisse Einfluss auf die Gestalt des Films haben können), gab es auch schon vor 2015 gewalttätige Sabotage- oder Terrorakte, die nicht (nur) negativ geprägt waren: FLN, RAF, IRA, ETA. Revolutionen, wo seid ihr geblieben? Und wirklich, keinerlei Anspielungen auf die Ängste und Wünsche der heutigen Jugend? Eigentlich wollte Bonello seinen Film Paris est une fête nennen, zurückgehend auf Hemingways Erzählung »A Moveable Feast«. Da die Erzählung aber zum Symbol wurde, nach den Paris-Attentaten sich nicht das savoir vivre verderben zu lassen, nahm er davon Abstand. Das wäre dann doch zweifelhaft geworden: Paris als Stadt der abgefeierten Attentate zu inszenieren.
Die Oberfläche bei Bonello ist der Verzicht auf Erklärungen – und das ist ja erst mal gut. Mit der Wahl des äußerst seltsamen und unwahrscheinlichen Rückzugsortes (»ich liebe Unwahrscheinlichkeiten«, so Bonello), dem exponierten Luxus-Kaufhaus, wo erst einmal die vier Security-Leute erschossen werden, damit die jungen Erwachsenen ungestört im Kaufhaus Party machen können, macht die inszenierte Sinnlosigkeit von terroristischen Akten oder zumindest Aktionen einer leidlichen Didaktik Platz. Seht her, die Jugend, die mal was wollte, verfällt den bürgerlichen Luxus-Emblemen und den bourgeoisen Werten! Die fette Stereoanlage, die coolen Klamotten, der Hochzeitsanzug und Verlobungsring, die Badewanne, das bürgerliche Mahl mit Rotwein und Käse aus der Feinkostabteilung (ein Obdachlosenpaar wird, als Reminiszenz an Bunuels Viridiana oder als leerer Charity-Akt, dazugeholt), alles wird jetzt groß ins Bild gerückt – als real existierender Warenfetisch. Nebenbei findet auch viel Product-Placement statt, bis das Kaufhaus gestürmt wird.
Aber vielleicht geht es ja darum in der Zukunft, in den westlichen Gesellschaften: um den Konsum und die kapitalistischen Werte, ganz anders, als wir es bislang von der Revolte der Jugend kennen. Waren für alle! – Das ist am Ende denunziatorisch und zynisch gegenüber einer Jugend, die nicht nur in Frankreich bitter gegen den sozialen Abstieg und die Arbeitslosigkeit kämpft.
»Sandalen am Krater lassen, wie Empedokles. Und dann hinab!
Nicht sagen Wiederkehr. Nicht denken halb und halb«
Gottfried Benn: »Eine Hymne«
Wenn einem Film Zynismus vorgeworfen wird, spricht das schon einmal für ihn. So hat man Bertold Brecht und Ernst Jünger Zynismus vorgeworfen, Gottfried Benn und Thomas Bernhard, den Surrealisten und den Dadaisten, Nietzsche und Baudelaire sowieso, im Kino Hitchcock, Peter Greenaway und Brian De Palma und vielen mehr. Bertrand Bonello ist also in guter Gesellschaft. Es gibt nämlich ein Kino, das die Oberflächen liebt und den schönen Schein, und das ihn bewahren will, während es doch
dahinter blickt. Davon ist hier die Rede. Zynismus war jedenfalls das Kompliment, das der FAZ nicht sehr gut anstand, als es Marco Schmidt im letzten Herbst in ihren Seiten formulieren durfte – das ist ein Problem der Zeitung und des Autors, nicht des Films.
Wenn einem Film Zynismus vorgeworfen wird, ist »Zynismus« allzuoft nur die Chiffre für einen betont nicht-moralisierenden, sich Wertung enthaltenden Blick, einen Blick in Abgründe, oder für eine Haltung, bei der man kühl
auf eine Sache blickt, von Außen und distanziert. Sie ist aller Erfahrung nach generell erkenntnisfördernder als der moralisierende oder moralisch selbstgewisse Blick. Neugier und Ungewissheit sind immer interessanter als das gute Gewissen aller billig und gerecht Denkenden.
Wer also gegen den Staat und die herrschenden Verhältnisse ist, ist ein Terrorist. Wer Terrorist ist, ist ein Mörder. Und Mörder sind böse. Oder? Ach so: Des einen Terrorist ist des anderen
Freiheitskämpfer. Terroristen sind also Widerständler. Und widerstand ist gut. Und gut soll man doch sein im Leben, oder?
Nocturama ist ein Film, der solchen falschen Alternativen ausweicht, mit einer eleganten Hüftbewegung, wie ein Torero dem Horn des Kampfstiers.
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Allein schon dieser Anfang! Die Kamera fliegt über Paris, über die Seine, den Louvre. Sanft, zuerst kaum merklich pulsieren elektronische Musik-Bässe, schnell und dynamisch.
Aus dem Dunkel eines U-Bahn-Tunnels kommt ein Zug ans Licht, ein junger Mann steigt um, erhält per Smartphone einen Zielwaggon genannt. Im Zug trifft er andere Gleichaltrige. Nur Blicke schaffen Kontakt. Dann steigt ein anderer aus, wirft sein Handy in den nächsten Mülleimer.
Schnelle Wechsel und
Abwechslungen erzählen von einem knappen Dutzend junger Leute. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, eine Rolltreppe rauf, eine andere runter, ein Auseinandergehen, und wieder Zusammentreffen – das Ballett der Großstadt.
Kurz sind wir plötzlich über der Erde, aber nur um einen jungen Mann, der im Anzug ganz anders aussieht als der Rest, eher wie ein Börsenmakler oder Banker, dabei zu beobachten, wie er eine Metro-Haltestelle hinabsteigt.
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Genau 8 Minuten alt ist der Film, noch immer wurde kein Wort gesprochen, da sehen wir einen Stadtplan, auf den die Kamera hinzoomt, und der außer den Metro-Linien, dem Betrachter auch signalisiert, wo genau in Paris wir uns befinden: Rive Gauche, nahe dem Invalidendom, andere fahren zum Tour Montparnasse, wieder andere zum großen Bogen bei La Defense.
Nach genau 9 Minuten fallen die ersten Sätze – eine junge Frau, die wir zuvor schon im Zug gesehen haben, spricht sie, nachdem
sie die Metro verlassen hat, und in ein Hotel eincheckt.
Immer ist alles in Bewegung, im Übergang und die Musik tut ein Übriges, um diesem Film von den ersten Minuten an einen enormen Sog zu verleihen.
Der Film zeigt zwanzig Minuten lang zunächst die Figuren im Untergrund der Stadt, dann ihre parallele Bewegung in Innenräumen: Arbeitsplätze, Hotelzimmer, gläserne Büroflure, enge Toiletten.
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Man versteht erst einmal nicht viel, aber das ist auch eine ganz gute Seherfahrung. Dann, wenn man verstanden hat, was hinter der Parallelisierung steckt, hat ein zweiter Teil begonnen, der die Figuren und ihr Leben genauer vorstellt:
Dabei ist der Film auch mit Geschichtslektionen und Gegenwartszeichen gepflastert: Johanna von Orleans, die Bastille, Stellenabbau, Arbeitslosigkeit, immer neue Sicherheitsvorschriften... Vom »stillen Putsch in Griechenland« ist einmal
die Rede, ein andermal heißt es: »Die vielgepriesene Demokratie kann nur anhand ihrer Feinde, nicht ihrer Ergebnisse beurteilt werden.« Ein junges Mädchen warnt »Wir werden noch wie unsere Väter.«
Und es läuft, ziemlich früh schon, Berlioz' Requiem für die Märtyrer der Revolution von 1830.
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Irgendwann dann ist alles klar. Regisseur Bertrand Bonello zeigt in Nocturama die Ausführung mehrerer paralleler Terroranschläge im Herzen von Paris. Er zeigt das im Splitscreen und in Zeitlupe, wie einst Antonioni in Zabriskie Point.
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Nach ihren Taten treffen sich alle ein paar Stunden später in einem nächtlich leeren Kaufhaus. Ausgerechnet in diesem Konsumtempel, zwischen Schaufensterpuppen und stillstehenden Rolltreppen, hören sie Musik von Blondie und Willow Smith, essen und trinken, reden, und vor allem warten sie. Auf die unausweichliche Ankunft der Polizei. Aus den stillen Revolutionären werden melancholische Dandys – Flaneure im goldenen Konsumkäfig, die wissen, dass sie sterben werden, aber
auch als wandelnde Tote zu ihren Taten stehen. Mode und Verzweiflung.
Nur hier ist der Film stellenweise in Gefahr, unglaubwürdig zu werden, ins psychologisch Irreale abzugleiten. Ansonsten gibt es hier null Psychologie, null Soziologie, null Gegender. Warum sie das machen, wird nicht erklärt, aber im Zweifelsfall haben sie gerade nichts Besseres zu tun. Sie sind Rebels without a cause. Das ist so romantisch, wie die Filme von Godard, wie die Popsongs, die hier immer
wieder zu hören sind – Wahrheit gibt es in unseren Zeiten nur an der Oberfläche. Dass Romantik viel mit Tiefe und wenig mit Intellekt zu tun hätte, glaubt man auch nur in Deutschland. Das Gegenteil ist der Fall. Romantik ist Pop.
Zynisch ist hier nur der Sicherheitsapparat. Der knallt zum Schluss diese zarten jungen, zu allem entschlossenen Twens ab, wie Monster in einem Computerspiel.
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Nocturama – der Titel bezeichnet eine besondere Käfiganlage zur Präsentation nachtaktiver Tiere im Zoo. Eine Analogie nicht nur zum Kino.
Dies ist ein hochgradig stilisierter Film, geprägt von prachtvollen Bildern und exquisiter Musikauswahl. Ein toller Paris-Film in der Tradition von Rene Clair, La vie est a nous und Chronique d’un été, ein Film voller ungewöhnlicher, zugleich prägnanter Stadtansichten.
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Terroristen sind nicht nur gefährlich, sie können auch schön sein. Gewalt ist nicht nur bedrohlich, sie fasziniert auch. Das kann und darf man natürlich nicht so sagen, ist eigentlich unverantwortliches frivoles Gerede, darum hat der Film auch bei den guten Deutschen noch mehr als in seiner Heimat Frankreich die Jugendschützer, Tugendwächter und Moraltanten aller Lager vereint – so ein Film, das darf nicht sein. »Moderner Dschihadismus« urteilte vor einem Jahr auch das
Filmfestival von Cannes, und lud den Film publikumswirksam nicht ein. Kann es ein besseres Kompliment geben?
Bonello jedenfalls bewegt sich auf erstaunlichen Höhen: Der Ästhetik der Schwarzen Romantik, von Thomas De Quinceys »Bekenntnissen eines Opiumessers« bis zu Charles Baudelaires »Spleen von Paris«.
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Nocturama wurde in Frankreich von manchen kritisiert, für angebliche Verklärung des Terrors. Und wenn es so wäre, wäre es auch egal. Aber wer so etwas wirklich glaubt, hat nichts verstanden. Bertrand Bonellos Film wurde seit 2011 geplant, entstand also lange vor den Anschlägen von 2015.
»Irgendwann musste ja so etwas passieren.« sagt eine Passantin im zufälligen Gespräch in Nocturama.
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Dies ist hypnotisierendes, wahrhaftiges Kino. Bonellos überragender Film pulsiert in jeder Hinsicht. Er fühlt den Puls der Millenials, jener pessimistischen Idealisten, der Kinder von Internet und Lady Gaga.
Zugleich ein kühler Hauch in Zeiten der Überhitzung. Kein Film für alle Freunde der Sicherheit und der Leitkultur. Aber: Der Film zum Frankreich der Gegenwart, zur kompletten Absage an das Bestehende, das der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen verkörperte,
und zur Machtergreifung der jungen Generation im zweiten.
Der Angriff der Zukunft auf die übrige Zeit.