Argentinien/CH/NL 2011 · 99 min. Regie: Milagros Mumenthaler Drehbuchvorlage: Anton Tschechow Drehbuch: Milagros Mumenthaler Kamera: Martín Frías Darsteller: María Canale, Martina Juncadella, Ailín Salas, Julián Tello u.a. |
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Zutiefst metaphorisch |
Wenn man sich das südamerikanische Kino der Gegenwart anschaut, so wird eine länderübergreifende ähnliche Herangehensweise und Sensibilität sichtbar. Der brasilianische A Floresta de Jonathas wirft einen Blick auf die rurale Bevölkerung im Amazonasgebiet; der chilenische Carne de perro beobachtet den Alltag eines ehemaligen Folterers des Pinochet-Regimes. Diese Filme verzichten auf Kommentare und auf Erklärungen. Stattdessen steht der Akt der Beobachtung selbst im Mittelpunkt. Dieses Kino erzählt keine nach dramaturgischen Gesichtspunkten durchkomponierte Geschichten, sondern zeigt einfach Menschen und Dinge – diese dafür sehr genau – und überlässt es dem Zuschauer sich selbst seinen Teil zum Gezeigten zu denken. Der brasilianische Abrir puertas y ventanas zeigt diesen Ansatz in radikalisierter Form:
In einem Vorort von Buenos Aires zum Sommerende. Die drei Schwestern Marina (María Canale), Sofía (Martina Juncadella) und Violetta (Ailín Salas) wohnen alleine in der großen Villa ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter. Die drei jungen Frauen scheinen zunächst nur einer allgemeinen Sommersonnenlethargie ergeben die Zeit totzuschlagen. Doch nach und nach kristallisieren sich zwischen ihnen zahlreiche Konflikte heraus. Die verantwortungsvolle Marina widmet sich fleißig ihrem Studium, macht den Großteil des Haushalts und spielt für ihre etwas jüngeren Schwestern den Mutterersatz. Dazu gehört auch eine gewisse Strenge, mit welcher sie sich bei ihren Schwestern unbeliebt macht. Sofia interessiert sich hauptsächlich für ihr Aussehen und geht gern aus. Ihr Studium lässt sie hingegen schleifen. Die junge Violetta lebt scheinbar in den Tag hinein und hat einen wesentlich älteren Freund. Bis zum Herbstanfang zeichnet sich immer deutlicher heraus, dass sich die Leben der Schwestern stark verändern und auseinanderentwickeln werden.
Der Debütfilm der in der Schweiz aufgewachsenen argentinischen Regisseurin Milagros Mumenthaler ist ein Film, der stille Beobachtungen, neugierige Blicke und laute Mutmaßungen in sich vereint. Die drei Schwestern kennen sich so gut, dass ihre Verständigung überwiegend durch kurze Blicke und durch kleine Gesten erfolgt. Es herrscht eine äußere Unaufgeregtheit, die durch die langen ruhigen Kameraeinstellungen von Martín Frías zusätzlich betont wird. Doch das scheinbare Sommeridyll erweist sich zunehmend als getrübt. Sprechen die Schwestern miteinander, so oft in Form von abfälligen Kommentaren und von scharfen Verweisen. Auf »zieh sofort meine Sachen aus, sie werden sonst gedehnt« folgt »ich ertrage dich einfach nicht«. Ein »willst du dich denn heute gar nicht mehr anziehen?« wird gelangweilt verneint. Auf harmlose Sticheleien folgen verletzende Mutmaßungen, wie: »Sie ist anders als wir, sie ist bestimmt adoptiert«.
Neben den drei Schwestern sieht man im Film nur noch den von ihnen beobachteten und begehrten Nachbarn Francísco (Julián Tello), sowie einige kurz erscheinende Nebenfiguren. Die gesamte Handlung spielt im Inneren bzw. im Garten der Villa. Die Außenwelt erscheint lediglich in Form vereinzelter kurzer Blicke auf die vor dem Haus befindliche Straße. Diese Villa ist ein Mikrokosmos, der den Schwestern eine Heimat gibt, der ihnen jedoch zugleich zusehends wie ein Gefängnis erscheint. Es ist ihr sicherer Hafen, in dem sie sich vor der Außenwelt geschützt fühlen, in dem sie sich aber auch vor der weiten Welt da draußen verstecken. Diese Villa ist ein vertrauter Ort, in dem die Schwestern aufgewachsen sind. Zugleich ist es ein Ort voller Geheimnisse, der mit der Last einer unausgesprochenen Vergangenheit aufgeladen erscheint.
In diesem Haus gab es mehrere Räume, die zu Lebzeiten der Großmutter für die Schwestern tabu waren und die sie jetzt erkunden. Auch in ihrer eigenen Biografie scheinen unausgesprochene Leerstellen und dunkle verbotene Orte zu existieren. Was ist mit ihren Eltern? Wahrscheinlich leben sie nicht mehr. Aber was ist mit ihnen geschehen? Die Art, wie Marina auf die Andeutung, sie könne adoptiert sein überreagiert, könnte andeuten, dass sie sich diese Frage tief in ihrem Inneren bereits selbst einmal gestellt hat. Alle drei Schwestern scheinen sich zudem einig in der Vorstellung, dass Argentinien ein Land ist, dass sie besser irgendwann verlassen sollten. Sind sie etwa die Kinder von Opfern der argentinischen Militärjunta? Lasten auf ihnen Schatten der Vergangenheit, die zu schrecklich sind, um direkt angesprochen zu werden?
Die drei Schwestern müssen aus sich herauskommen, um sich eine hellere Zukunft zu eröffnen. »Türen und Fenster öffnen« lautet auch die korrekte Übersetzung des Originaltitels Abrir puertas y ventanas dieses zutiefst metaphorischen Films.