One Life

Großbritannien 2023 · 113 min. · FSK: ab 12
Regie: James Hawes
Drehbuch: ,
Kamera: Zac Nicholson
Darsteller: Anthony Hopkins, Helena Bonham Carter, Adrian Rawlins, Romola Garai, Lena Olin u.a.
Filmszene »One Life«
Höflichkeitsapplaus
(Foto: SquareOne)

Heldentränen

Anthony Hopkins glänzt in der Rekonstruktion eines ikonischen TV-Moments, die die Oberflächlichkeit ihrer Medienbilder jedoch nur mühsam aufbrechen kann

Der Sprung in die Geschichte ist der Sprung ins kalte Wasser. Kaum wurde die Wasser­ober­fläche des Swim­ming­pools durch­bro­chen, erscheinen die schick­sal­haften Stunden erneut, die das Gedächtnis lange Zeit begraben und verdrängen wollte. Zerris­sene Familien am Bahnhof, Weinen, Angst, rettende Züge, verrin­nende Zeit. One Life findet diese packende Über­lei­tung in seinem ersten Akt und zeigt Szenen vom Ende der 1930er-Jahre: Unzählige Menschen harren in der Tsche­cho­slo­wakei auf der Flucht vor den Deutschen aus, deren Einmarsch kurz bevor­steht. In Prag wird der Makler Nicholas Winton mit dem Leid der Geflüch­teten konfron­tiert, das ihm uner­träg­lich erscheint. Winton beschließt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um zumindest die Kinder aus dem Elend zu befreien, vor den Nazis zu retten und nach England zu evaku­ieren.

Das Drehbuch von Lucinda Coxon und Nick Drake nähert sich diesen Tatsa­chen­er­eig­nissen auf zwei Zeit­ebenen. Die eine, das ist jene, die in der Vergan­gen­heit der Dreißi­ger­jahre spielt, ist die deutlich schwächere von beiden. Allzu konven­tio­nelles Geschichts­kino gibt es in diesen Szenen zu erleben. Ihr geschlos­sener ästhe­ti­scher Histo­rismus kennt weder ein Reflek­tieren von Posi­tionen oder Perspek­tiven noch einen Begriff von Illu­sio­nismus und Geschichts­schrei­bung, der über reines Nach­stellen und filmi­sches Abso­lut­setzen hinaus­rei­chen würde. Die Rahmung als subjek­ti­viertes Erin­ne­rungs­stück bleibt mehr eine Behaup­tung, anstatt audio­vi­suell mit ihr originell zu verfahren. One Life fasst als Vergan­gen­heits­schau gerade so das nötigste Leid in blasse, austausch­bare Aufnahmen, um weder sich noch Außen­ste­henden zur Zumutung zu werden.

Seine Reize entfalten diese Rück­blenden also weniger über ihr insze­na­to­ri­sches Konzept als über den vorge­tra­genen akti­vis­ti­schen Eifer selbst, weniger über das Zeigen als über das Gezeigte. Helena Bonham Carter ist dabei unbedingt hervor­zu­heben! Zwar schenkt ihr der Film nur in wenigen Momenten seine volle Aufmerk­sam­keit, doch diese bleiben umso stärker im Gedächtnis. Nicht nur, weil sie ihre Figur, die wider­spens­tige Mutter von Nicholas Winton, mit einer solchen Grandezza und Schlag­fer­tig­keit verkör­pert, mit der sie zuerst sorgen­voll auf die Mission ihres Sohnes reagiert und später der Ignoranz ihres Umfelds selbst den Kampf erklärt. Auch deshalb, weil gerade ihr Auftritt in den büro­kra­ti­schen Mühlen der Immi­gra­ti­ons­behörde unmiss­ver­s­tänd­lich zu unserem Heute spricht. Dialo­gisch wird das nach­ge­holt, was die Bilder versäumen.

Attacke gegen die Gleich­gül­tig­keit

Das Leid hier wird mit dem Leid dort rela­ti­viert, Bequem­lich­keit regiert, schla­fende Hunde will man lieber nicht wecken oder zumindest überhören, wenn sie schon zu bellen beginnen. Babette Winton jedoch stellt sich diesem System konfron­tativ in den Weg. Sie tritt für Werte und Menschen­rechte ein und man kann One Life für solche mund­ge­recht servierten Stand­pauken und Aktionen wohl­wol­lend zunicken. Regisseur James Hawes hat zwar formal einen Film ohne erkenn­bare Hand­schrift insze­niert, doch zumindest erwartet er noch etwas von der Welt! Die zweite, stärkere Ebene von One Life, die in den 1980ern spielt, greift diese Erwar­tungen dann insofern inter­es­sant auf, als sie die Frage des Weiter­le­bens und des Reka­pi­tu­lie­rens der (nie) abge­legten Vergan­gen­heit ins Rampen­licht rückt.

Wo Nicholas Winton in jungen Jahren von Johnny Flynn gespielt wird, tritt hier der unver­gleich­liche Anthony Hopkins in Erschei­nung. Von dem eifrigen Retter von einst ist ein älterer, in sich gekehrter Herr geblieben, der mit der Sprache nicht so recht raus­rü­cken will. Geschichten hat er in Akten­bergen angehäuft. Sein Büro soll er entrüm­peln, das rät ihm seine Frau. Wohl­wis­send, dass jene Akten auch dann im Gedächtnis Spuren hinter­lassen, wenn sie aus den heimi­schen vier Wänden verbannt sind. Vor allem aber verwei­gert sich hier einer bescheiden seiner Helden­rolle. Mehr Leben hätte er retten sollen! An die 700 Kinder waren nicht genug. Noch heute plagt ihn das schlechte Gewissen. Doch One Life zollt den erfolgten Taten nicht nur Tribut, sondern zeigt auch, wie die Öffent­lich­keit nicht ohne solche Helden­ge­schichten kann, wenn sie von der Vergan­gen­heit erzählen will, obwohl sich der Betrof­fene selbst dagegen sträubt, so aus einem Geflecht heraus­gelöst und ins Rampen­licht gezerrt zu werden! Der entschei­dende Moment in One Life – diese Szene dürfte weiten Teilen des Publikums vor dem Kino­be­such bekannt sein – ist Wintons Auftritt im BBC-Magazin »That’s Life«, in dem er über­ra­schend mit der Präsenz der von ihm geret­teten Menschen konfron­tiert wird.

Geschichte im TV-Format

Das Ambi­va­lente, in gewissen Teilen auch Perfide dieses berühmten Fern­seh­ereig­nisses aus dem Jahr 1988 kann One Life nicht über­winden. Denn natürlich geschieht dort beides: die Ehrer­wei­sung und zugleich die offensive Lust an der provo­zierten Sensation, am ober­fläch­lich Senti­men­talen, das Geschichte auf reini­gende Affekte zu beschränken versucht. Der medial ausge­schlach­tete Heros wird zum lobens­werten Beispiel und Vorzei­ge­bürger erhoben, seine Geschichte auf verknappte Fakten beschränkt. Man kreiert ein Narrativ, das eine Gesell­schaft beklat­schen, bei dem sie anschließend selbst aktiv werden oder aber weiter die Füße still­halten kann. Der What­a­bou­tism und die Ignoranz, die der Film an früherer Stelle anpran­gert, werden von einem solchen Narrativ, das sich auf ein vergan­genes Gestern zurück­be­zieht, mutmaß­lich nicht beirrt.

Ob man sich diesen ergrei­fenden Szenen nun eher kultur­pes­si­mis­tisch nähern will oder nicht: Schade ist so oder so, dass One Life nur marginal gelingt, ihr Entstehen, also die umfas­sen­deren kultu­rellen Mecha­nismen ihrer Mythen­bil­dung frei­zu­legen. Statt­dessen wieder­holt und festigt der Film reine Resultate. Er verwei­gert sich einem Bohren in der Sensa­ti­ons­logik der medialen Bilder. Er imitiert auch hier allein, lässt den Helden noch einmal in Groß­auf­nahme wässrige Augen bekommen, sucht noch einmal das große Gefühl in seiner Adaption des realen Moments. Seine insze­na­to­ri­schen Mittel sind rein affir­ma­tiver Natur. Zum Denkmal taugt das, zum anre­genden Weiter­denken oder einer produk­tiven filmi­schen Aneignung eher wenig.

Dabei weiß es dieses zwie­späl­tige Werk offen­sicht­lich besser! Es ahnt, dass die gesell­schaft­liche Ausein­an­der­set­zung abseits der vergos­senen Tränen statt­finden muss, um größere Lehren aus den bezeugten Helden­taten zu ziehen. Das eigent­lich Wahr­haf­tige und Aufrüt­telnde findet er nämlich weder in seinen histo­ri­schen Rück­blenden noch im TV-Studio. Statt­dessen lauert es irgendwo ganz unscheinbar im Garten in eckiger, reflek­tie­render Form: als eingangs beschrie­bener Swim­ming­pool – das eine heraus­ste­chende Bild dieses Films. Ein symbol­trächtig aufge­la­dener Ort, der mal zum Vermittler zwischen den Zeiten, mal in trocken­ge­legter Form zum Sinnbild der Entlee­rung und des Verlusts von Erfah­rungen und dann zum wieder gefüllten, leben­digen Schau­platz der Gesel­lig­keit über Gene­ra­tionen hinweg taugt. Er konzen­triert räumlich den gesamten Prozess von One Life und lädt dazu ein, das Graben, Wühlen und Tradieren in einem Austausch nicht zu vergessen.