Norwegen 2011 · 94 min. · FSK: ab 12 Regie: Joachim Trier Drehbuch: Joachim Trier, Eskil Vogt Kamera: Jakob Ihre Darsteller: Anders Danielsen Lie, Hans Olav Brenner, Ingrid Olava, Øystein Røger, Tone B. Mostraum u.a. |
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Das, was vom Leben bleibt. |
»I remember thinking I'll remember this...« – »Ich erinnere mich, wie ich dachte: daran werde ich mich erinnern.« – diese doppelt verschraubte Selbstrelativierung in der Selbstbeobachtung, das Motiv der Erinnerung an eine zukünftige Erinnerung, die Wahrnehmung der Gegenwart im Modus zukünftiger Vergangenheit die Reflexion der Reflexion irgendwo im verminten Niemandsland zwischen Melancholie und Coolness – dies scheinen überaus zeitgemäße Zustände zu sein, obwohl sie schon seit langem auch Thema der Kunst sind: Über den Ennui, den Überdruss im Alltag schrieb bereits der französische Dichter Charles Baudelaire.
Der Norweger Joachim Trier gibt diesem Lebensgefühl in seinem neuen, seinem zweiten Spielfilm Oslo, 31. August eine ganz und gar zeitgemäße Gestalt.
Der Film beginnt mit Bildern aus Oslo, Dokumentaraufnahmen einer ganz nahe zurückliegenden verlorenen Zeit, fixiert mit ein paar kollektiven Marksteinen, wie der spektakulären Sprengung des Philipps-Hochhauses im Jahr 2001, an die sich jeder Osloer genau erinnert.
Aus dem Off spricht dabei eine Frauenstimme. Sie spricht offenbar zu einem Freund, rekapituliert gemeinsame Erinnerungen, die gemeinsame Jugend, was man so redet, wenn das Leben vor einem und der Tod weit
entfernt liegt. Und doch steht der Tod am Ende dieser Rede – sie richtet sich an einen Toten.
Dann sieht man einen jungen Mann, und versteht sofort, dass er derjenige ist, zu dem gerade gesprochen wurde. Dass er derjenige ist, um den es geht in diesem Film.
Der junge Mann schreitet alleine durch den Wald; er nimmt größere Steine auf, und stopft sie in seine Lederjacke. Er steht vor einem See, und zögert nicht lang, hebt noch einen weiteren schweren Stein auf, geht in den See,
tiefer, tiefer, und verschwindet im Wasser. Doch nach ein paar langen Sekunden taucht er wieder auf. Der Körper will eben leben, auch wo der Geist es nicht mehr will.
Mit diesem versuchten Selbstmord beginnt alles. Das Publikum folgt nun diesem jungen Mann, der Anders heißt, durch den Tag. Ein Tag in Oslo, wo wie wir schon erfahren haben, jeder jeden kennt, woraus man abhauen muss, wenn man neu anfangen will. Viel Grün, wenig Hochhäuser.
Oslo, 31. August ist ein Stationendrama. Erzählt an einem einzigen Tag, immer wieder mal eine Weile in Echtzeit. Man sieht Anders wie er verschiedene Leute aus seinem Leben trifft, die er offenbar lange nicht gesehen hat, Freunde, Bekannte. Zwischendurch hat er ein Bewerbungsgespräch, am Abend geht er auf eine Party, dann in einen Club, zwischendurch sieht man ein paar Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit.
Allmählich setzt sich so aus vielen kleinen Mosaiksteinen ein Bild von Anders' Leben zusammen, ein bisschen wie er sich sieht, ein bisschen der Blick der anderen. Wir erfahren, dass er 34 ist, begreifen, dass er gerade aus der Drogenklinik entlassen wurde, und nach überstandenem Entzug sein Leben von Null an wieder aufbauen muss, aber nicht recht weiß wie. Wir hören von seiner Schwester und von seinen Eltern. Ein Tag im Schwebezustand, erzählt ohne übertriebene Dramatik, ohne Gefühligkeit. Nüchtern, beobachtend. Anders ist ein Mensch, der es den anderen nicht leicht macht.
In einem seiner neuesten Texte hat Michel Serres kluge Gedanken über den Selbstmord formuliert (Michel Serres: »Kleine Chroniken: Sonntagsgespräche mit Michel Polacco«; Merve Verlag, Berlin 2012, 15 Euro). Serres verurteilt nicht, erklärt nicht, ob es gut sei oder schlecht, sich das Leben zu nehmen. Das Einzige, das aus der Verzweiflung helfe sei das Reden, und zum Reden gehört natürlich das Zuhören, ein Zuhören, das sich nicht anstecken lassen darf von der Verzweiflung. Es gibt da eine wunderbare Passage über den »Schmerz des Heranwachsens, des Lebensanfangs, die Furcht, in diese elende Gesellschaft hineinzutreten, die von uns anderen, von uns Erwachsenen erfunden und geschaffen wurde«. Der 82-jährige Serres fühlt sich ein in die depressive Wut, die Aggressivität der Jugend.
Dieser Film geht auf einen französischen Roman aus dem Jahr 1931 zurück: Le feu follet (»Das Irrlicht«) stammt von Drieu de la Rochelle, einem Dandy und Freund der Surrealisten und wurde Anfang der 60er Jahre bereits einmal verfilmt: Von Louis Malle, mit Maurice Ronnet und Jeanne Moreau. Der Regieassistent hieß Volker Schlöndorff. Dieser Film zeigt seine Hauptfigur als Oberschichtgestalt, als verwöhnten Sohn, schnöseligen Dandy, mit Musik von Erik Satie. In der Vorlage steht allerdings auch: »Der Selbstmord ist der Akt für die, die keine anderen mehr begehen können.«
Joachim Trier hält sich mehr als Malle an den Roman und arbeitet dessen zentrale Motive heraus: Nicht um Liebe geht hier, sondern um Freundschaft, um Verlorensein, um Erinnerung. Um das, was vom Leben bleibt. Eine existentielle, auch existentialistische Parabel, die bewegt und die sehr zeitgemäß ist. Denn sie erzählt uns von einer Generation, die nicht erwachsen werden kann, für die alles, ob Arbeit oder Drogensucht nur eine Verlängerung der Kindheit ist.
Wo die Alten nicht sterben, sind die Jungen des Lebens müde.