Deutschland 2019 · 102 min. · FSK: ab 0 Regie: Theresa von Eltz Drehbuch: Lea Schmidbauer Kamera: Florian Emmerich Darsteller: Hanna Binke, Amber Bongard, Lili Epply, Cornelia Froboess, Marvin Linke u.a. |
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Unkonventionelle Ploterweiterung |
So schnell wird man eines Besseren belehrt. Noch vor ein paar Wochen hatte ich anlässlich des Starts von Immenhof darüber gemäkelt, dass mit dem ersten Ostwind-Film vor sieben Jahren und der Geburt weiterer Pferdefilm-Franchises wie Wendy und Bibi & Tina im Kern eigentlich immer die gleiche Geschichte erzählt wird. Und noch viel schlimmer: dass diese Geschichte im Grunde die ist, die auch schon von der Mutter aller Pferdefilme, Wolfgang Schleifs Die Mädels Vom Immenhof (1957) erzählt wurde. Also alles so ist, wie in der wirklichen Pferdezucht, allein aufs Siegerpferd gesetzt wird.
Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Denn die inzwischen vierte Folge des Ostwind-Franchises – Aris Ankunft – ist nicht nur bezüglich der erzählten Geschichte nach einem dichten, immer wieder herrlich wild ausschlagenden Drehbuch von Lea Schmidbauer eine echte Überraschung, sondern wirkt auch an anderen neuralgischen Schnittstellen so, als habe auf dem Pferdehof plötzlich wer ganz Anderes das Sagen.
Dabei sehen sich die ersten Minuten so schrecklich schlimm und verflixt vorhersehbar an wie die anderen Ostwind-Filme, gibt es wie immer Geldsorgen, böse Konkurrenten, die Gut Kaltenbach übernehmen wollen, und Schauspieler, die ihre Gefühle aufsagen, als wären sie eine mathematische Formel. Doch dann entsteht plötzlich eine neue Dynamik, denn die bisherige Heldin Mika (Hanna Binke) liegt plötzlich im Koma und dementsprechend traumatisiert vegetiert auch ihr seelenverwandtes Pferd Ostwind nur mehr in einem dunklen, abgelegenen Stall vor sich hin. Raum also für eine völlig neue Geschichte, die es tatsächlich in sich hat.
Und die außerdem noch von Theresa von Eltz in Szene gesetzt wird, die die Regie von der bisherigen Ostwind-Hausregisseurin Katja von Garnier übernommen hat. Und genau diese Regie spürt man auch, kaum dass das Franchise vertrautes Gelände verlässt und sich plötzlich mit einem Systemsprenger konfrontiert sieht, der 12-jährigen Ari (Luna Paiano), die von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht wird, ohne ein Zuhause zu finden. Bis sie schließlich nach Kaltenbach kommt, wo es allerdings auch nicht so einfach mit der anvisierten Pferdetherapie zugeht, weil es gerade auf Kaltenbach natürlich von Systemsprengern nur so wimmelt.
Diese für das Genre unkonventionelle Ploterweiterung funktioniert aber nicht nur durch die überragende Luna Paino so gut, die in der bieder-blöden Papa Moll-Verfilmung von Manuel Flurin Hendry noch völlig untergegangen war, sondern ist wohl vor allem Theresa von Eltz zu verdanken. Denn so wie in ihrem Langfilmdebüt 4 Könige, in dem sie vier Jugendlichen mit ernüchternder Empathie auf ihrem weihnachtlichen Weg in die Jugendpsychiatrie folgt, beweist von Eltz auch hier ein Gespür für das Ungesagte, die Gefühle zwischen den Zeilen und zaubert aus einem Schattenpersonal, das sich schon auf die Ewigkeit eingerichtet hatte, noch einmal wirkliche Menschen. Das betrifft natürlich nicht die über alle Zweifel und schließlich auch Traumata erhabene Ari, sondern das in Ostwind immer schon sehr präsente Nebenpersonal um Sam (Marvin Linke), Maria Kaltenbach (Cornelia Froboess), Herr Kaan (Tilo Prückner) und den nicht wegzudenkenden Dr. Anders (Detlef »Bibi & Tina«-Buck).
Ganz nebenbei katapultieren von Eltz und ihre Drehbuchautorin Lea Schmidbauer das ein wenig ins Alter gekommene Ostwind-Franchise damit auch in ungeahnt jugendliche Höhen. Denn »Systemsprenger«- und Pflegekind-Problematiken werden ja nicht nur in aktuellen Hollywood-Filmen- und Serien wie Plötzlich Familie und THIS IS US (2. Staffel) intensiv verhandelt, sondern waren mit Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt Systemsprenger auch die Überraschung der Berlinale.