Norwegen 2024 · 120 min. · FSK: ab 12 Regie: Dag Johan Haugerud Drehbuch: Dag Johan Haugerud Kamera: Cecilie Semec Darsteller: Andrea Bræin Hovig, Tayo Cittadella Jacobsen, Marte Engebrigtsen, Lars Jacob Holm, Thomas Gullestad u.a. |
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Liebe mit Aussicht | ||
(Foto: Alamode / Die FilmAgentinnen) |
So wie das ganz normale Leben ist es auch um Dag Johan Haugerud und seine Trilogie bestellt. Ganz einfach und doch ganz schön kompliziert. Denn Oslo Stories: Liebe, der nun als erster Film der Trilogie in die Kinos kommt, hatte Ende letzten Jahres eigentlich als letzter Teil der Trilogie in Norwegen seine Erstaufführung. Aber andrerseits ist es nicht so wie bei Haugeruds Landsmann Karl Ove Knausgård, dessen sechs autofiktionale Romane unter dem Übertitel Min Kamp ganz ähnliche Untertitel wie Haugeruds Filme haben, auch einen, der »Liebe« heißt. Erzählen Knausgards Romane zwar ebenfalls über die verschlungenen Wege, die Liebe, Leben und Identitäten in unserer Zeit gehen können, sind sie jedoch auf der dunklen Seite des Mondes angesiedelt und baut jedes Buch chronologisch auf dem anderen auf.
Bei Haugeruds Oslo Stories ist das nicht so. Es sind »helle« Geschichten und jeder Film erzählt eine eigene dieser »hellen« Geschichten, mit neuen Darstellern und stets in einem anderen Stadtteil Oslos. Nur eine Person, wenn man sie denn als Person bezeichnen will, taucht immer wieder auf, die Stadt Oslo. Hier überschneiden sich die Wege der Protagonisten, vor allem vor einem Gebäude landen sie irgendwann alle, dem Osloer Rathaus mit seinen eigenwilligen, fluide Beziehungen versprechenden Skulpturen.
Ganz im Zentrum steht dieses Rathaus in Oslo Stories: Liebe. Hier trifft Marianne (Andrea Bræin Hovig) ihre Freundin Heidi (Marte Engebrigtsen), die gerade eine Führung durch das Rathaus gibt und die fluiden Sexualitäten der Skulpturen erklärt und damit auch so etwas wie das norwegische Verständnis vom Menschsein. Diese theoretische Anlage wird im Laufe des Film von Marianne gewissermaßen in die Tat umgesetzt. Sie arbeitet als Ärztin auf einer onkologischen Station und berät an Prostatakrebs erkrankte Männer. So wie der Krankenpfleger Tor (Tayo Cittadella Jacobsen), der sie bei den Beratungen unterstützt, hat sie kein Interesse an statischen Beziehungen, sondern liebt wie Tor die fluiden Momente des Lebens, ihr fehlen nur die Werkzeuge, diese Momente auch in ihr Leben zu holen. Durch einen Zufall trifft sie Tor in einem ganz anderen Kontext und lernt von ihm, was ihr bislang verschlossen blieb, gleichzeitig reflektiert sie jeden Schritt, den sie tut, in langen Gesprächen nicht nur mit Tor, sondern auch den Partnern, auf die sie trifft.
Neben Mariannes Begegnungen, in denen sie unter anderem deutlich macht, dass die Ehe als Produktionseinheit für sie nicht in Frage kommt, fokussiert Haugerud, der bislang vor allem durch seinen Film BARN (2019) außerhalb Norwegens bekannt wurde und neben den wenigen Filmen vor allem Romane geschrieben hat und als Bibliothekar an der Norwegischen Musikhochschule arbeitet, fokussiert Haugerud genauso intensiv auf Tors Beziehungsleben, seine Homosexualität, über die er nicht nur die Patienten von Marianne besser versteht, sondern über die er auch andere Freunde hat und sucht und letztendlich auch einer anderen Gesellschaftsschicht und einer Region in Norwegen entstammt, über deren Dialekt sich normalerweise jeder lustig macht.
Haugerud verzwirbelt diese beiden Lebenslinien mit all ihren aufregenden Abzweigungen in großartige Dialoge, die wie auch in den anderen Filmen der Trilogie länger als zehn Minuten dauern, sich dabei aber so wirklich anfühlen, dass man nicht aufhören möchte ihnen zuzuhören, vor allem aber auch zuzusehen. Denn Haugeruds Ensemble ist bin die kleinste Nebenrolle delikat aufgestellt, jeder spielt hier, als spiele er um sein Leben, mindestens aber um seine Liebe, wie immer die auch aussieht.
Dabei gelingt es Haugerud, Momente von großer und überraschender Zärtlichkeit zu bannen, der Moment etwa, als Marianne den Architekten Ole (Thomas Gullestad), mit dem sie durch ihre Freundin Heidi verkuppelt werden soll, beim Einsteigen durch das Fenster seines Hauses an dessen Po tätschelt, oder wie Tor Bjørn (Lars Jacob Holm) auf dem Weg vom Krankenhaus mit dem Rad überholt und versucht mit ihm zu reden.
Und dann die Worte selbst, die Zärtlichkeit der Sprache, die Verfertigung der Erkenntnisse durch das Reden, alles ganz nach Kleists Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden aus dem Jahr 1805, die in all-täglichste Tiefen gleiten, wie etwa dem steigenden Druck der Erwartungshaltung durch einen weit entfernten Briefkasten oder dem Gespräch bei einem frugalen Abendbrot in Oles Haus auf der Oslo vorgelagerten Insel Nesodden. Das erinnert ein wenig an die Nouvelle Vague, vor allem an Éric Rohmer und seine Filme und die vielen, vielen Gespräche über Liebe, Leben und Leiden. Doch Rohmer ist eine andere Zeit, ist eigentlich nur eine Assoziation, so wie Haugeruds Filme alle auch assoziativ sind, trotz ihrer alltäglichen Gespräche, die aber immer auch in neue Dimensionen unseres menschlichen Weltalls führen.
Jedes Gespräch führt zu Erkenntnissen die so leicht wie schwer sind, denn was zählt, ist nicht immer, worüber gesprochen wird, sondern dass überhaupt jeder mit jedem zu reden imstande ist. Erst dadurch verändert sich auch die Realität für jeden, so dass das Ende folgerichtig auch wieder im Osloer Rathaus spielt, wo Oslo Stories: Liebe seinen Anfang nahm.
Doch natürlich ist das kein wirkliches Ende, sondern vielmehr die Aufforderung zu einem ganz neuen und unwirklichen Anfang.