Deutschland 2015 · 164 min. · FSK: ab 12 Regie: Lutz Dammbeck Drehbuch: Lutz Dammbeck Kamera: Eberhard Geick, Börres Weiffenbach, Volker Tittel, István Imreh Schnitt: Margot Neubert-Maric |
![]() |
|
Spielen in der Zwangsjacke |
»Ich hab eine Sendung adaptiert, die hieß 'Beat the Clock', und das war eine Zusammenfassung von Spielen, die aus der amerikanischen Psychiatrie kamen. Man hat in Amerika psychisch gestörte Menschen mit solchen Spielen befasst, um sie aus ihrer Verklemmung, ihrer Erstarrung herauszuholen.« – »Wieviel Patienten haben da zugeschaut?« – »Eine Nation! Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation!«
Man glaubt es kaum, was Joachim Fuchsberger hier vor knapp zehn Jahren in einer Talk-Show erzählt: Kann das sein? Kann das wirklich stimmen, dass die Unterhaltungsshows im westdeutschen Nachkriegsfernsehen, unter anderem jene, mit denen Fuchsberger populär wurde, ursprünglich einmal von Psychiatern erfunden wurden? Spiele für Erwachsene zur Behandlung ihrer Patienten? Sozusagen als Lockerungsübungen für schwerstgestörte Fälle für die Anstalt?
Und kann es weiter wahr
sein, dass jene Fernseh-Spielshows dann von den West-Alliierten gezielt eingesetzt wurden, um – gemeinsam mit anderen Übungen und Programmen – die von der Naziherrschaft und den vielfältigen Gewalterfahrungen der Diktatur traumatisierte deutsche Nation gewissermaßen spielerisch umzuprogammieren zu vorbildlichen Demokraten? Sie zu zivilisieren? Und nach Völkermord, Vernichtungskrieg und Barbarei für die Ideen von Freiheit und Gleichheit zu gewinnen.
Man beginnt das zu glauben, wenn man die Bilder von den entsprechenden Shows sieht, die Regisseur Lutz Dammbeck zu dieser Frage einspielt. Nicht um einen Sketsch von Loriot handelt es sich nämlich, sondern um pure Realität, wenn da brave, höchst spießbürgerliche Herren, die im Anzug und mit Wirtschaftswunderbauch genauso aussehen wie eine Loriot-Figur, mit Hut und eng geschnürter Krawatte über dem zugeknöpften Hemd plötzlich Kugeln balancieren, Luftballons mit dem Kopf durch schmale Löcher stupsen oder sich mit einem meterlangen Gummiband zusammengeknüpft im Kreis drehen. Ja, das waren erkennbare Lockerungsübungen für die verhärtete, innerlich erstarrte, wie äußerlich immer noch an »Zucht und Ordnung« gewöhnte Nachkriegsgesellschaft.
Aber Fernsehshows als Therapie? Vielleicht ist das alles doch nur eine weitere Verschwörungstheorie, mit der sich misstrauische Menschen eine hochkomplizierte Welt etwas einfacher machen.
Aber so einfach ist es hier gar nicht. Und die Frage, mit der Dammbeck beginnt, ist vor allem der Start zu einer fesselnden Reise durch die Kultur- und Bewusstseinsindustriegeschichte des letzten Jahrhunderts. Lutz Dammbeck erzählt vor allem gut, und er bündelt die Themen. So geht es einerseits um die Geschichte der Shows und ihren Zusammenhang mit der Spieltheorie, die heute auch dazu dient, Börsengeschäfte zu verstehen, Computer zu programmieren und diplomatische Verhandlungen vorauszuberechnen.
Der Film reist zurück bis in die Zeit der Aufklärung, als der britische Philosoph Adam Smith den berühmten Gedanken der »unsichtbaren Hand« entwickelte – ein symbolisches Bild für die Selbststeuerung einer Gesellschaft oder eines Marktes. Kurz darauf kam es bei der Französischen Revolution zu ersten Politshows – denn die Revolution, die Monarchen geköpft und die scheinbar gottgewollte Ordnung umgestürzt hatte, brauchte eine neue Mythologie. Sie brauchte Bilder, um ihre Gedanken – modern ausgedrückt – zu labeln und zu vermarkten.
So entwickelte die Philosophie der Aufklärung, die den Menschen aus seiner Unmündigkeit und den Ketten der Feudalherren befreite, zugleich das Instrumentarium neuer Knechtschaft: Der Manipulation durch Bilder, aus der bald Selbstmanipulation wurde.
Und da ist Dammbeck dann bei dem Gedanken der Re-Education: Dem Nachdenken amerikanischer Wissenschaftler, von denen viele erst in den letzten Jahrzehnten aus Europa immigriert waren, über die Umerziehung der faschistischen Deutschen, die idealerweise eine Selbst-Umerziehung sein solte. Wie macht man so etwas?
So geht diese oft überraschende, immer fesselnde und sehr gut unterhaltende Geschichte noch weiter. Dammbeck reichert sie an mit verschiedenstem Material, er zeigt Filme und Bilder, hat Interviews geführt, und er erzählt viele gute Geschichten. So fügt sich Stück für Stück zusammen. Dammbecks Puzzle ergibt am Ende ein Gesamtbild, das viele, wenn auch nicht alle Fragen beantwortet.
Das Wort Fernseh-Anstalt hat nach diesem Film allerdings einen neuen, zweiten Sinn bekommen.