Deutschland 2016 · 99 min. · FSK: ab 16 Regie: Irene Langemann Drehbuch: Irene Langemann Kamera: Franz Koch, Maxim Tarasjugin Schnitt: Lena Rem |
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Ikone der Zensur: der russische Aktivist Pawlenski |
Ein Mann mit einem ausgemergelten Gesicht, das fast an Fotos von KZ-Insassen erinnert. Dazu der mit einem groben Faden zugenähte Mund. Ein Foto, das um die Welt ging. So präsentiert sich der russische Protestkünstler Pjotr Pawlenski. In diesem Fall gilt der Protest der Verurteilung der Gruppe »Pussy Riot«. Bei einer anderen Aktion liegt Pawlenski nackt und in eine Rolle Stacheldraht eingewickelt vor dem Stadtparlament von St. Petersburg. Dann hockt er ebenfalls nackt, mit festgenageltem Hodensack, direkt vor dem Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz. Jene Aktion richtet sich gegen die in Russland grassierende Apathie und politische Gleichgültigkeit.
Pawlenski versteht sich darauf, mit minimalen Mitteln Aktionen – und insbesondere Bilder dieser Aktionen – zu kreieren, die radikale Metaphern für die aktuelle Situation in Russland sind. Diese Bilder impft Pawlenski dem globalen Bilderfluss unseres Medienzeitalters ein. Pawlenski erschafft Icons, die selbst im unablässigen aufdringlichen audiovisuellen Grundrauschen die Aufmerksamkeitsschwelle der potenziellen Adressaten überschreiten. Selbst die oft unbeholfenen Reaktionen der Staatsmacht auf diese Aktionen werden Teil der von Pawlenski angestrebten Inszenierung, die sogar den Gerichtssaal mit einschließt.
Irene Langemann, Regisseurin von Pawlenski – Der Mensch und die Macht, ist eine in Sibirien aufgewachsene Russlanddeutsche, die in Moskau studiert und in Russland als Schauspielerin, Regisseurin, Theaterautorin und Fernsehmoderatorin gearbeitet hat, bevor sie 1990 nach Deutschland gegangen ist.
In einem Interview mit dem deutsch-russischen Magazin »Russia beyond the Headlines« äußerst Langemann sich zu Pawlenski wie folgt: »Bei unserem ersten Telefonat habe ich ihm die Frage gestellt, was denn die Quintessenz seiner Kunst sei. Und für ihn war das die Beziehung zwischen der Staatsmacht und dem Menschen, dem Individuum. Das ist genau das, was mich auch immer interessiert hat. Deswegen wollte ich diesen Film unbedingt machen.« Sie weist auch darauf hin, dass Putins Russlands sie stark an die Sowjetunion ihrer Kindheit erinnere. Und diese Erinnerungen seien nicht gut.
Damit steht der Ausgangspunkt für Pawlenski fest: Das heutige Russland ist ein Reich des Bösen und der Ex-KGB-Offizier Wladimir Putin der über allem waltende dunkle Baron. Anstatt dies überhaupt erst einmal anhand konkreter Fakten zu belegen, wendet sich Langemann von der ersten Einstellung ihres Filmes an an ein Publikum, das diese Sicht teilt. Immer wieder dienen von einem bedrohlichen Gebrumme untermalte Bilder des nächtlichen Moskau und St. Petersburg zur emotionalen Einstimmung in diese Sicht. Was bei den alten James Bond-Schinken funktioniert hat, muss schließlich auch für einen modernen Dokumentarfilm funktionieren. Suggestion statt Information. Willkommen im Zeitalter des Postfaktischen!
Mit dieser Machart konterkariert Langemann ihr eigenes Anliegen und schwächt unnötig die eigentlich sehr starke Basis für ihren Film. Denn im Umgang der russischen Autoritäten mit dem widerspenstigen Künstler wird vieles offenbar, was bis dahin lediglich Behauptung war. Der beste Fürsprecher für Pawlenski ist der eloquente Künstler selbst. Dies klingt in allen Interviews mit weiteren russischen Künstlern sowie mit Pawlenskis Frau Oksana an. Letztere findet es auch völlig in Ordnung, sich als Liebesbeweis einen Finger abgeschnitten zu haben und ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken. Der Psychologe, der sich geweigerrt hatte, Pawlenski als geistig gestört zu diffamieren, bescheinigt dem Künstler jedoch ein infantiles Gemüt.
Das Eloquente und das Kindliche fließen zusammen in den auf originalen Aufzeichnungen basierenden Nachstellungen von Äußerungen Pawlenskis im Gerichtssaal und aus dem Gefängnis heraus. Da nicht gefilmt werden konnte, wurden die entsprechenden Szenen mit russischen Schauspielern in Scherenschnittmanier gedreht. Dabei erweist sich Pjotr Pawlenski als ein Wesensverwandter von Karl Valentin: Vor Gericht fordert er die Umwandlung der Anklage von Vandalismus in Terrorismus. Im Gefängnis meint er, dass zwar seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt sei, er dafür jedoch viel mehr Freizeit habe.
Diese Sequenzen gehören zu den stärksten Momenten in Pawlenski. In ihnen gelingt es der Regisseurin, unsichtbar gemachte Dinge der Verborgenheit zu entreißen und in das Licht der Öffentlichkeit zu stellen. Doch viel zu oft begnügt sich Langemann mit dem nicht immer gelungenen Versuch, Pawlenskis radikale Aktionen einfach mit filmischen Mitteln zu doppeln. Dies schwächt den Film, anstatt ihn zu stärken. Glücklicherweise gelingt es Pawlenskis eindringlichen Inszenierungen immer wieder, dies zu überstrahlen.
Was nicht mehr im Film vorkommt: Nur wenige Monate nach Abschluss der Dreharbeiten flüchtete Pawlenski zusammen mit seiner Familie über die Ukraine nach Paris, nachdem ihm und seiner Frau sexuelle Übergriffe auf eine Schauspielerin vorgeworfen wurden. Im Januar 2017 beantragte Pawlenski politisches Asyl in Frankreich.