Frankreich 2022 · 111 min. · FSK: ab 12 Regie: Mikhaël Hers Drehbuch: Mikhaël Hers, Maud Ameline, Mariette Désert Kamera: Sébastien Buchmann Darsteller: Charlotte Gainsbourg, Noée Abita, Emmanuelle Béart, Quito Rayon Richters, Thibault Vinçon u.a. |
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Die Reste der Familie zusammenhalten | ||
(Foto: Eksystent) |
Paris bei Nacht – das ist ein klassischer Topos. Die Nacht spielt eine große Rolle in diesem Film, denn dies ist die Zeit, in der die Hauptfigur, eine alleinstehende Frau mit zwei pubertierenden Kindern, bei einer nächtlichen Radiosendung arbeitet. Mit ihr und mit den Menschen, denen sie begegnet – bei der Arbeit, im Privatleben – kreist dieser Film durch die 80er Jahre – das Porträt einer Patchworkfamilie und einer ganzen Epoche. Charlotte Gainsbourg, Emmanuelle Beart und die französische Newcomerin Noée Abita spielen die Hauptrollen in diesem intimen Film, in dem sich Privates und Politisches vermischen.
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10. Mai 1981: François Mitterrand hat die französische Präsidentschaftswahl gewonnen; der Sieg dieses liberalen Sozialisten war ein Wendepunkt für Frankreich und ein letzter Sieg progressiver Politikmodelle in den westlichen Demokratien in jenen Zeiten, in denen bereits das neue Modell, in denen Neoliberalismus und Deregulierung beginnen, den Ton anzugeben und den Druck auf die liberalen Gesellschaften zu erhöhen...
Sehr bewusst beginnt der französische Regisseur Mikhaël Hers seinen Film Passagiere der Nacht in genau diesem Moment: Von Anfang an sind hier Privates und Gesellschaftliches, Kultur und Politik, das Große und das Kleine miteinander verbunden.
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Begeisterte Wähler feierten an jenem Abend des 10. Mai 1981 auf den Straßen, verteilten Rosen – das Symbol der Partie Socialiste (PS) – und verliehen der Atmosphäre dieses Beginns eines Jahrzehnts eine optimistische Energie.
Zu ihnen gehört Elisabeth, gespielt von Charlotte Gainsbourg. Nach der Scheidung lebt sie allein mit ihren zwei Kindern in einer großzügigen modernen Wohnung, die mit ihren vielen Texturen, weichen Möbeln, Teppichen, Vorhängen, Postern, auch der musikalischen Textur und regelmäßigen Mahlzeiten am langen Essenstisch mit einer großen Frontscheibe im Hintergrund, die die Silhouette der Stadt und der Häuser gegenüber schattenhaft aufscheinen lässt, im Folgenden eine Art Zentrum
des Films über den Wandel der Zeiten hinweg bilden wird.
Sie sucht Arbeit, aber nicht so sehr des Geldes wegen, sondern vor allem, um ihrem Leben einen neuen Sinn und neue Orientierung zu geben. So kommt sie zum Team von »Passagiere der Nacht« – der Titel dieses Films ist nämlich auch der einer Radiosendung innerhalb des Films, die in regelmäßigen Ausschnitten zu einer Art Taktgeber und Orientierungspol der über ein knappes Jahrzehnt reichenden Filmhandlung wird. Es handelt
sich genauer gesagt um ein Nachtprogramm mit »Call-In«-Anteil: Zuschauer können anrufen. Elisabeth beginnt in der Anrufzentrale, allmählich gewinnt sie an Erfahrung, Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit, reift mit der Zeit – denn am Anfang des Films fühlt sich die gerade aus der Ehe entlassene Frau noch sehr unselbständig –, und steigt auf in der Hierarchie des Teams. Auf diese Weise bilden dieser Arbeitsplatz und die verschiedenen Kollegen den zweiten
emotionalen Mittelpunkt des Films.
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So kreist dieser Film um die zwei räumlichen Zentren, wie das Private und das Berufliche; er ist aber auch ein Paris-Film, genauer ein Film über das 15. Arrondissement (Vaugirard) im Südwesten der Stadt, wo Moderne und Altstadt ungefügt nebeneinanderklaffen und die Radiosender ihre großen Studios haben. Die Geographie der Straßen, des Flusses, die Mischung aus Gebäuden der Haussmann-Ära und retrofuturistischer Architektur sind hier wesentliche Bestandteile: Immer wieder
sitzen Menschen im Freien, in Parks, auf Bänken, aber auch des Nachts auf Dächern mit der neonglänzenden Metropole im Hintergrund, selbst 80er-Jahre Erinnerungen beim Zuschauer evozierend.
Zeitlich bewegt sich Passagiere der Nacht entlang der Chronologie durch die 80er-Jahre: Die Zeiten ändern sich, »die Einschläge kommen näher«, das Geld wird weniger, die Wohnung teurer, die Kinder von Elisabeth werden erwachsen, neue Personen stoßen zu dieser Familie: Da
ist vor allem Talulah, gespielt von Noée Abita (Genesis), seit ihren Hauptrollen in Ava und Slalom ein Shootingstar des französischen Kinos. Sie ist hier ein junges Punk-Girl, das Elisabeth eines Nachts wie eine herrenlose Katze zuläuft. Dieses obdachlose Mädchen voller Ideale, zugleich ohne konkrete Zukunft, das ihren Weg nicht gefunden hat, zieht in die
»Chambre de Bonne«, ins »Dienstmädchenzimmer« der Wohnung ein.
Sie bildet mit all ihren Problemen, zugleich mit all ihren Hoffnungen und ihrer erfrischenden Naivität, grundiert von tiefer Traurigkeit, den sozialen Kontrapunkt zu der im Prinzip klassisch-bürgerlichen Familie. Sie verkörpert die Zukunft – sowohl durch ihre Jugend, wie dadurch, dass mit ihr eine neue Art von Verlorenheit und Melancholie in den Kosmos des Films eintritt.
Das verändert auch Elisabeth und ihre Familie. Sex und Militanz dringen in ihr Leben ein, Kino und
das Spektakel in das von Talulah. Allmählich brechen die heile Welt von Elisabeth und das Versprechen von Wohlstand und Zukunft unwiederbringlich zusammen.
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Dieser Film ist nicht zuletzt eine nostalgische Hommage an eine Zeitenwende. An einen Moment, der die Biografien derjenigen, die heute 45 Jahre oder älter sind, entscheidend mitgeprägt hat: Das Ende des Fortschrittsglaubens, das Ende der Überzeugung, dass das Leben in den westlichen Gesellschaften immer besser wird und es jede Generation besser haben wird als die davor. Dieses Ende setzt genau in jenen frühen 80er-Jahren ein, in denen Punk die Flower Power ablöste, in denen
eine neue Generation plötzlich »No Future« zum Identitäts-Slogan erklärte, in denen Aids den freien Sex beendete und betriebswirtschaftliche Denkansätze den Ausbau des Sozialstaats.
Das Private besetzt das Politische, vermischt sich mit ihm, kolonisiert es: In der Radiosendung »Passagiere der Nacht« diskutiert Elisabeth über die Privatsphäre der Zuhörer, Liebe lauert in der Bibliothek, Demos lohnen nicht, stattdessen gefühlredet man darüber, was »einem gut tut«. Nicht
die Welt passt sich mehr dem Kino an, sondern das Kino passt sich der Welt an.
Mikhaël Hers ist ein hervorragender Film gelungen, der der Versuchung des Melodramatischen, Übertriebenen, des Kitsches entgeht. Der kohärent und fluide die Balance wahrt, der getragen ist von seinen Darstellern, den Bildern des Kameramanns Sébastien Buchmann und dem klugen Einsatz von Archivmaterial.
Der Film lebt auch von der Würde des Alltags und der kleinen Dinge, der Objekte unseres Lebens... Ein Genuss!