Frankreich 2001 · 142 min. · FSK: ab 16 Regie: Christophe Gans Drehbuch: Stéphane Cabel, Christophe Gans Kamera: Dan Laustsen Darsteller: Samuel Le Bihan, Mark Dacascos, Emilie Dequenne, Vincent Cassel u.a. |
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Martial Arts in Frankreich |
Wenn Sie in ihrem Leben nur (noch) einen Film sehen wollen, muss es dieser sein. Und kein anderer. Man würde, kaum dass der Abspann gelaufen ist, stehenden Fußes nach Rom pilgern und in der Papstaudienz die Heiligsprechung des Regisseurs, des großen, des genialen Christophe Gans, beantragen. Wenn man noch laufen könnte. Sorgen Sie dafür, bevor Sie sich diesen Film ansehen, dass Sie jemand nachhause fährt danach. Wenn Sie ein Taxi nehmen: schreiben Sie sich ihre Adresse auf einen Zettel. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass sie sich dem unbedarft Außenstehenden verbal nicht mehr verständlich machen können. Machen Sie Ihrem Arbeitgeber glaubhaft, dass sie weder Psychopharmaka noch anderweitig Drogen konsumieren – denn es wird in jedem Fall Erklärungsbedarf entstehen, wenn Sie erst einmal tagein tagaus verzückt entrückt hinter ihrem Schreibtisch sitzen. Informieren Sie auch ihren Freundes- und Bekanntenkreis rechtzeitig über bevorstehende Verhaltensauffälligkeiten und radikal eingeschränkten Gesprächsstoff. Nur so können Sie der drohenden sozialen Isolation entgegenwirken. Genau genommen sollte man diesen Film überhaupt nur unter ärztlicher Aufsicht ansehen. Genau genommen fällt dieser Film unter das Betäubungsmittelgesetz. Der Pakt der Wölfe (Le pacte des loups) ist amour fou total, verdirbt den Geschmack gründlich für alles andere: Du sollst keinen Film neben mir haben. Man wird quasi cineastisch monogam.
Ein Film als Fahrkarte zur Rückkehr ins Paradies. Jenen paradiesischen Zustand der Kindheit, da man sich in Geschichten, in fiktive Welten vorbehaltlos, vorurteilsfrei geradezu verlieren konnte. Welten, die wirklich und wahrhaftig und unendlich waren. Kinder sind furchtlose Entdecker, neugierig und offen für alles, eine wunderbare Kombination. Erwachsene sind Schisshasen, Kontrollfreaks. So häuft man peu à peu Meinungen und Urteile, Ideologien und Theorien an. Das Besteck,
mit dem der Erwachsene die Welt in mundgerechte Häppchen zerteilt. Alles wird leicht verdaulich aufbereitet, schön übersichtlich. Alles wird auch mikroskopisch klein dadurch, wir sind Gullivers allesamt und überall ist Liliput. Es ist ein unerhörter Glücksfall, ein Wunder geradezu, wenn da ein Zauberer auftaucht wie Christophe Gans, der uns erlöst aus diesem Dilemma.
Le pacte des loups ist eine wirklich unendliche Welt, eine unendlich wirkliche Welt. Eine
Welt, in der man sich wieder einmal ganz und gar verlieren kann.
Eine Geschichte vom bösen Wolf im tiefen Wald, von den Wölfen im Schafspelz, vom Tier im Menschen überhaupt. Es war einmal im Süden Frankreichs, das ist historisch verbürgt, eine wilde Bestie, die Jagd macht auf Frauen und Kinder. Um 1764 hat sich das zugetragen. Noch herrscht in Versailles Louis XV, so geblendet vom eigenen Glanz, dass er kaum merkt wie am Horizont schon das ganz andere, revolutionäre Licht der Aufklärung heraufdämmert. Das Raubtier jedenfalls kann nicht erlegt werden, irgendwann hört das Morden einfach auf (Dr. Guillotine, bitte übernehmen Sie). Das Rätsel um die Bestie von Gévaudan aber ist, gerade weil so viel Raum bleibt für die Fantasie, der Stoff aus dem die Legenden sind. Und die Legende, das wissen wir, taugt immer noch am Besten zur Aufbesserung dürrer historischen Fakten. Folglich spinnt Le pacte des loups eine tolldreiste Geschichte um die Ereignisse, denen hier zwei Abenteurer auf den Grund gehen: Der Chevalier Grégoire de Fronsac (Samuel Le Bihan) und der Irokese Mani (Mark Dacascos), sein Blutsbruder. Mit Schönen und Biestern aller Art bekommen sie es zu tun. Überall tummeln sich hier the good, the bad and the ugly, Frankenstein meets the wolfman und der Adel geht vorzugsweise in leuchtendes Rot gewandet. Etwas Vampiristisches ist in diesen Edelleuten, genau so hat sie ja auch, später, Jean-Jaques Rousseau charakterisiert. Zweifellos darf dem Vampir aber die melancholische Schönheit nicht fehlen, die dämonische Schwermut und man muss hier vor allem den ungeheuer wandelbaren Vincent Cassel hervorheben. Hierzulande ist er vielleicht am ehesten noch in Erinnerung als junger Heißsporn neben Jean Reno in den Rivières pourpres. Für Christophe Gans gibt er nun Jean-Francois de Morangias, einen – in jeder Hinsicht – perfekten byronic lover. Samuel Le Bihan und Mark Dacascos geben natürlich ein dreamteam ab und wenn wir hier nicht ins Unseriöse, gar Pornographische abgleiten wollten, müsste man jetzt noch ganz ausführlich darauf eingehen, wie unvergleichlich umwerfend Mark Dacascos im Lendenschurz aussieht.
Dieser – auch angezogen – wunderbare Mark Dacascos ist bei Christophe Gans in gute Hände geraten. Denn was Hollywood und Off-Hollywood mit diesem Mann anstellt ist natürlich zum Weinen. Man muss sich nur mal (nein, nicht ernsthaft) Machwerke wie Drive anschauen. Das ist so ziemlich, was sich Hollywood unter Hong Kong Kino vorstellt (ergo: weit gefehlt!) und läuft im Übrigen auf das hinaus, was man auch an Rush Hour feststellen kann: dumm, rassistisch, unkomisch und nicht mal vom Charme und Charisma eines Jackie Chan oder Mark Dacascos noch irgendwie zu retten. Glücklicherweise also kommt Christophe Gans schon 1995 to the rescue. Damals dreht er seinen ersten abendfüllenden Film (nachdem er für Brian Yuznas Produktionsfirma bereits einen Beitrag zum Episodenfilm Necronomicon geliefert hatte). Crying Freeman ist schon ganz Gans: der Film zum Kultmanga von Kazuo Koike und Ryochi Ikegami. Auch das ein Kostümfilm, so der Meister persönlich über die Gemeinsamkeiten zwischen seinem Spielfilmdebüt und Le pacte des loups, ein Kostümfilm im Gewand des Gangsterfilms. Dacascos ist für ihn (und wer wollte da widersprechen?) der ideale Darsteller, ein bisschen larger than life selbst, und tatsächlich gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Schauspieler und dem gezeichneten Vorbild, zu Yo Hinamura, dem Freeman. Inzwischen arbeiten Gans und Dacascos wieder gemeinsam an einem Film, The Adventurer, nach der Comicvorlage »Bob Morane«. Vincent Cassel, der im Pacte des loups noch eher biestig daherkommt, wird da die Titel- und Heldenrolle übernehmen.
Christophe Gans ist ein Dilletant. Heute natürlich, da wir längst verlernt haben den Wert einer Sache jenseits des Geldwertes zu bestimmen, ist diese Einstellung durchaus in Misskredit geraten. Man muss sich hier auf die ursprüngliche Wortbedeutung zurückbesinnen. Kein Nichtskönner, kein Stümper etwa sondern Einer, der aus purem Spaß an der Freud sein Metier betreibt, aus Leidenschaft für die Sache. Gans hat keine Filmhochschulen besucht, keine Diplome, Urkunden, Zertifikate angesammelt. Hat seine Ausbildung zum Regisseur vielmehr in der einzig wahren Talentschmiede genossen: im Kino. Und weil man sich in Frankreich herausnimmt, auch mal über den Hollywood-Tellerrand hinauszuschauen, hat er eine große Liebe entwickelt zum europäischen und zum asiatischen Kino. Weiß dabei auch jede Menge über japanische Mangas und französische Literatur, über europäische Geschichte und deutsche Malerei. Ist aber erfreulicherweise über all seinem Wissen kein Besserwisser geworden.
Die Intelligentia unter den Filmemachern geht ja immer wieder gerne mit ihrem Wissen hausieren auf der Leinwand, man denke da nur an Wim Wenders, wie er am Ende seiner Wilhelm-Meister-Adaption schön brav den »Wanderer über dem Nebelmeer« nachstellt von Caspar David Friedrich. Das ist sozusagen das Scary Movie für den Bildungsbürger, funktioniert nach dem gleichen Prinzip: freier Wettbewerb des Ich-erkenne-was-was-du-nicht-erkennst. Auch Gans hat sich von Friedrich inspirieren lassen. Aber: Gans begnügt sich nicht mit plumper Kulissenschieberei. Freilich finden sich Motive, locations, die direkt den Bildern Friedrichs abgeguckt sind. Aber Gans hat das Wesentliche dieser Malerei erkannt und auf die Leinwand transponiert: das Licht, jenes ganz unverwechselbare Caspar David Friedrich Licht. Damit unterscheidet sich Gans, ein moderner Prometheus, unter anderem auch dramatisch vom Hollywoodkino dieser Tage, dessen Macher zum großen Teil von einem plotpoint zum nächsten hecheln und darüber völlig vergessen haben, dass der Kinematograph zunächst mal Licht in die Dunkelheit bringt.
Ein malerischer, ein romantischer Film, Le pacte des loups. Man darf nicht unterschätzen, wie gerade die Romantiker unter dem Deckmäntelchen des Märchenhaften und Phantastischen sich ganz konkret politische Gedanken gemacht haben. Gans ist unglaublich pessimistisch eigentlich. Das aber unaufdringlich, so elegant en passant, dass man fast zweimal hinsehen muss, um ihm auf die Schliche zu kommen. Völlig unpatriotisch ist es bei ihm schlecht
bestellt um Liberté, Égalité, Fraternité. Da wird am Ende einer auf''s Schafott geführt, der es weiß Gott besser verdient hätte. Aber: die Menschen kommen nicht raus aus dem Pauschalisieren, dem Verallgemeinern, dem Verdammen. Die Oberfläche taugt immer wieder zum Stigma: egal ob Klasse oder Rasse.
Keiner lebt glücklich bis an sein Ende hier. Vor allem: nicht hier. Das Glück liegt einmal mehr in der Fiktion, im Denkbaren, im Möglichen. Er denkt oft an Grégoire und seine geliebte
Marianne, der Marquis Thomas d’Apcher, der uns die ganze Geschichte überhaupt erzählt. Denkt an sie und hofft, dass sie glücklich sind »loin d’ici«. Fern von hier. Auf einem Schiff, vielleicht. Mitten auf dem Ozean, im Niemandsland, losgelöst von allem. Ein wenig Totenschiff, ein wenig Geisterschiff, alle Bewegungen scheinen poetisch verlangsamt und nie waren die Farben so zart, so transparent, so freundlich. Frère Loup ist auf den Bug geschrieben, dort wo Grégoire steht:
alles andere als ein king of the world.
Mit Le pacte des loups ist Christophe Gans die Revolution gelungen, ein cineastischer Sturm auf die Bastille des Hollywood-Genrekinos. In jeder Einstellung spürt man die Leidenschaft für’s Kino, für’s Geschichtenerzählen. Und weil Leidenschaft von Haus aus Übertreibung bedeutet, überbordet dieser Film an visuellen Eindrücken, an Motiven und Ideen. Ein Film, der sich wunderbarerweise in keine Schublade sperren lässt. Vielmehr hat Gans sämtliche Schubladen aufgezogen und durchstöbert und aus jeder sich das Beste und Schönste und Aufregendste herausgeholt (und übrigens die Besten Ihres Fachs gleich mit: David Wu ist für den Schnitt verantwortlich und Philip Kwok für die Stuntchoreographie. Beide haben mit Ronny Yu und Tsui Hark und John Woo mehrfach schon gearbeitet, kommen also quasi direkt aus dem Himmel über Hong Kong). Spektakuläres Kung-Fu-fighting und Martial Arts made in Hong Kong gibt es folglich auch in Le pacte des loups zu sehen. Geheimbünde und Verschwörungen. Prächtige Kostüme und grandiose Ausstattung. Alte Burgen und finstere Katakomben und bunte Bordelle. Bei Sergio Leone hat sich Gans die Ledermäntel ausgeborgt, bei Murnau den zuweilen dämonischen Blick auf den Wald, bei Tsui Hark und John Woo den drive, die Energie, den Rhythmus. Schillernd exotisch ist das zuweilen wie Der Tiger von Eschnapur etwa (den seinerzeit ja auch nur die Franzosen richtig zu schätzen wussten, während man hierzulande Fritz Langs märchenhaften Film unter dem Stichwort Alterssenilität ablegte). Von einer Erzählwut ist Le pacte des loups, einer überbordenden Fabulierlust, einer Detailversessenheit wie man sie bei Alexandre Dumas findet und Victor Hugo und Eugene Sue. Gans kennt keine Grenzen: egal ob Genre oder Medium, ob Epoche oder Nation. Und weil er keine Grenzen kennt sind ihm auch keine Grenzen gesetzt. So ist aus einer Alchemie bekannter und bewährter Zutaten ein Film entstanden, der am Ende ganz und gar unvergleichlich und einzig dasteht. Man kann endlich einmal das große Wort gelassen aussprechen ohne rot werden zu müssen dabei: hier hat einer das Kino neu erfunden. Vive le Gans!