Österreich/F/D 2013 · 92 min. · FSK: ab 12 Regie: Ulrich Seidl Drehbuch: Ulrich Seidl, Veronika Franz Kamera: Edward Lachman, Wolfgang Thaler Darsteller: Melanie Lenz, Joseph Lorenz, Michael Thomas, Verena Lehbauer, Vivian Bartsch u.a. |
||
Hand aufs Herz, da kann man sich schon mal verlieben |
Zwei Mädchen liegen zusammen in der unteren Etage eines Stockbettes und unterhalten sich über Jungs: »Aber manche haben auch einen urgeilen Charakter« – »Aber ein urgeiler Körper ist besser!« Die Mädchen heißen Melli und Verena, sie sind 13 und 16 Jahre alt und wiegen zusammen fast 165 Kilo. Sie befinden sich in einem Diätcamp. Hier spielt Paradies: Hoffnung, der abschließende Teil von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie. Ein Ort mit dem Charme einer ehemaligen Klinik, der sich anbietet für die streng strukturierten, meist zentrierten Bilder, die wie in den beiden ersten Teilen wieder Wolfgang Thaler und Ed Lachmann fotografiert haben.
Bilder von dicken Kindern beim Sport: Jungen und Mädchen, die sich zuerst von Links nach Rechts purzelbaumschlagend durch die Turnhalle quälen und wieder zurück, während sie in der Saalmitte der Sporttrainer (Michael Thomas) antreibt. Dicke Kinder, die mit hängenden Nordic-Walking-Stöcken um die Klinik laufen, Kinder, die im Kreis um den Turnlehrer marschieren, der eine virtuelle Peitsche schwingt und sie als seine kleinen Lipizzaner bezeichnet.
Natürlich interessiert Seidl nicht allein der körperliche Aspekt, also der Alltag des Diätcamps, mehr interessieren ihn die privaten Dinge, das was seine Personen umtreibt. Melli (Melanie Lenz), Verena (Verena Lehbauer) und die anderen Mädchen im Vierbettzimmer sprechen über ihre Eltern – alle geschieden –, über Jungs, über das Küssen und ihre vorherigen Diätcamp-Erfahrungen. In den Nächten versuchen sie vergebens die Küche zu plündern, oder sie feiern mit den Jungs zusammen eine Party. Aber auch die wird gesprengt.
Seidl hat wie immer ohne Drehbuch gearbeitet, den Schauspielern wie den Laien nur die Richtung vorgegeben und sie improvisieren lassen. Die Gespräche zwischen den Kindern sind natürlich und authentisch, besonders wenn sich Melli und Verena zusammen in ein Bett kuscheln und über Intimes reden. Über Sex: »Du tust deinen Freund blasen?«, fragt Melli. »Ja, klar«, antwortet Verena. »Wäh, ich find das urgrindig, ich könnt das nie machen.« Dann sprechen sie über die Liebe: Melli hat sich verguckt, nicht in einen Campkameraden, sondern in den deutlich älteren Doktor (Joseph Lorenz) des Camps. Fast täglich sucht sie ihn auf, putzt sich mehr und mehr heraus und auch der Arzt scheint ihre Avancen zu erwidern. Bei einem gemeinsamen Badeausflug, als Kinder und Betreuer sich sonnen, geht Melli in den angrenzenden Wald. Der Arzt folgt ihr, Joseph Lorenz spielt das mit einem Anflug vom Bösen Wolf...
Paradies: Hoffnung ist der letzte Teil von Seidls Paradies-Trilogie. In Liebe war Mellis Mutter auf der Suche nach Glück in Kenia zu sehen, in durchaus ausstellenden und entblößenden Szenen. Im zentralen, verstörenden zweiten Teil Glaube wurde die Ehehölle zwischen Mellis fundementalistisch-katholischer Tante Anna Maria und ihrem muslimischen Mann vorgeführt. Hoffnung, Mellis Geschichte, ist dagegen fast zärtlich – wenigstens für Seidls Verhältnisse.
»Und diese Kinder, auf die ihr spuckt, während sie versuchen ihre Welt zu verändern, sind immun gegen eure Ratschläge, sie sind sich ganz bewusst, was sie durchmachen.« Das Zitat von David Bowie ist fast dreißig Jahre alt und stammt aus einem anderen Film über Teenager, die nicht den Normen entsprechen, dem Breakfast Club. Und es stimmt noch immer. Kaum dreht ihnen der Sporttrainer den Rücken zu, schneiden die Kinder Grimassen und fangen an zu kichern. Man kann sie schleifen, aber nicht brechen. Dass der erste Herzschmerz kommen wird, ist unvermeidlich: Aber der geht vorbei, und das ist dann doch irgendwie tröstlich. Ein Schimmer von Hoffnung.
Man sieht akkurate Bildanordnungen, dokumentarisch wirkende Inszenierungen à la Seidl, seine typische Malerei der Bürgerlichkeit mit Tischen, Stühlen, Türstürzen und tiefen Flurschluchten, Doppelbetten mit metallenem Gestänge. Da drinnen Seidls in alle Richtungen ausufernden Personen, voluminöse Körperlichkeiten, die eins werden mit der Umgebung, in sie hineinquellen, sich den kühlen Tapeten und Mauern anpassen, um in einer unwirklichen, weil eben fast zu wirklichen Ebene mit allem, was sie selbst geschaffen haben, zu verschwimmen. Die Jugendlichen wollen oder müssen dünn werden, schlank werden, abspecken, sich im Diät-Camp geißeln.
Der Film beginnt mit einem Auto und einem klitzekleinen Problem: Zentimetern, die fehlen, um aus der Lücke herauszukommen, auch hier: Alles zu unbeweglich und schwerfällig. Parallelen in der Disziplin beim Lavieren von Gefährten und dem Drillen von dicken Kindern in einem Diät-Camp.
Das Camp: Präservative und Schokolade, süße Beruhigung und nervöse, pubertäre Körperlichkeit. Wir waren alle mal jung, tranken und spielten mit Flaschen, ließen uns begrapschen, gaben uns Träumen hin und glitten vom sexuell aufgeladenen Tanz zur Kissenschlacht zurück. Und immer wieder das Davonstehlen und Verdrücken aus Situationen, in denen man unsicher ist. Die Jugendlichen sind der militärischen Disziplin eines wahrscheinlich irgendwann zu kurz gekommenen Drillmeisters ausgeliefert. Er ist fast ein Foltermeister, der seine Bestätigung statt in Schokolade in seiner eigenen Autorität findet: Wer nicht diszipliniert ist, kriegt ein Problem mit mir! Stramm werden und stramm stehen werden hier gleichgesetzt. Sein eigener kleiner Bauch wölbt sich dabei schamlos über die Sporthose. All diese körperlichen Eignungstests offenbaren immer wieder das menschliche Rollenverhalten.
Das Mädchen verliebt sich in den Camp-Arzt.
Die Lunge, das Herz und die Brust abhören, dabei immer wieder das Zweifeln des Doktors, das Quälen des Mädchens. Doktorspielchen ... auch das noch. Dann ist man bei der ersten Liebe, die eben nicht mitmacht beim in der Reihe Stehen, Laufen und Schwimmen, die dranhängt an den wässrig blauen Augen eines alternden Doktors, des sportlichen Mannes, mit Altherrengesäß, der zu weit entfernt ist und nicht wirklich angefasst werden darf. Dieser Doktor stiert, er spielt stierend, nichts weiter, er knickt ein neben dem Mädchen, als Schauspieler. Schade. Die beiden funktionieren nicht miteinander.
Sie treffen sich kurz und eng. Er weiß nicht, damit umzugehen. Er ist der Hilflose. Sie schmiegt sich an. Er versucht stark zu sein und scheitert.
If you are happy and you know it, clap your fat!
Der Genuss von Schokolade in einem sterilen weißen Raum und das Hervorbrechen der Natur im Wald. Natürlich. Das Riechen. Das Nebeneinanderliegen. Es regnet. Pubertierende Mädchen sind so unkontrollierbar. Natürlich.
Geh heast, geh scheißen!