Großbritannien 2024 · 106 min. · FSK: ab 0 Regie: Dougal Wilson Drehbuch: James Lamont, Jon Foster, Mark Burton Kamera: Erik Wilson Darsteller: Hugh Bonneville, Emily Mortimer, Antonio Banderas, Olivia Colman, Julie Walters u.a. |
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Verblüffend progressiv und provokativ | ||
(Foto: Studiocanal) |
Paddington in Peru ist zunächst einmal eine Übung in Sachen Abschied. Das Franchise um den berühmten sprechenden Bären, einst eine Kinderbuchfigur, inzwischen Gesicht eines riesigen Franchises und Medienverbunds aus Romanen, Filmen, Videospielen und allerlei Merchandise-Ramsch, widmet sich der Vergänglichkeit. Nichts kann so bleiben, wie es ist, auch nicht in der zuckersüßen Paddington-Welt. Das erkennt man schon an Paddingtons Schlafgemach, in dem ein Bild von dem knuffigen Bären und der verstorbenen Königin Elizabeth II. wehmütig drapiert wurde. Vor ihrem Tod trat die Queen im Jahr 2022 in einem Videosketch mit Paddington auf. Gipfeltreffen der britischen Ikonen quasi. Inzwischen ist aus der Königin ein König geworden. Und die Fans der vorherigen zwei Spielfilm-Adaptionen müssen sich ebenso auf künstlerische Änderungen einstellen.
Sally Hawkins hat der Reihe den Rücken zugekehrt. Inzwischen wird die Mutter der Familie Brown von Emily Mortimer verkörpert, um die das ganze Thema des Konservatismus und der Furcht vor der Veränderung entsponnen wird. Mutter Brown trauert dem Gestern nach. Ihre Kinder sind inzwischen groß. Ihr ängstlicher Ehemann hängt in seiner beruflichen Karriere fest. Wenig Zeit also für das familiäre Miteinander. Ein jeder lebt sein eigenes Leben; die Zusammenkünfte auf der gemeinsamen Couch sind mittlerweile Geschichte. Die biedermeierliche Heimeligkeit wird nur noch in Gemälden wachgehalten, die die Mutter in ihrer Freizeit anfertigt. Wie passend also, dass Paddington, den die Browns einst bei sich aufgenommen haben, einen besorgniserregenden Brief aus Peru erhält. Seiner Tante Lucy, die in einem von Nonnen geleiteten Bären-Altersheim residiert, soll es nicht gut gehen. Also fliegen Paddington und die ganze Sippschaft in das ferne Land, um sie zu besuchen. Mutter Brown wittert die große Chance, ihre Familie zusammenzuhalten. Endlich mal wieder etwas gemeinsam unternehmen! Nur, vor Ort angekommen, ist Tante Lucy plötzlich verschollen. Also begibt sich die Gruppe auf eine Abenteuerreise durch den Dschungel.
Es ist erstaunlich, wie gewitzt einen dieser Film an der Nase herumführt. Der frische Wind, der auch hinter den Kulissen offenbar weht, steht der Filmreihe bestens zu Gesicht. Die Drehbuchautoren sind andere als in den beiden Vorgängerfilmen. Zudem hat Dougal Wilson auf dem Regiestuhl Paul King abgelöst. Sein Film ist weniger stringent, bruchstückhafter erzählt als die beiden Vorgänger, ringend um Kontinuität, aber auch eine eigene Handschrift, was ihn erstaunlicherweise umso interessanter macht. Er testet, welche Geschichten sich mit der Familienfilm-Ikone noch erzählen lassen. Eines ist dabei geblieben: Auch Wilsons Vision von Paddington liebt die Slapstick Comedy und das Spiel mit Referenzen. Es gibt dort beispielsweise deutliche Anleihen an Buster Keaton zu sehen. So rekreiert Wilson unter anderem den ikonischen Sturz der Häuserfassade, die den perfekt platzierten Körper dann doch nicht erschlägt. Daneben bezieht sich Paddington in Peru immer wieder auf Werner Herzog und dessen Amazonas-Filme Aguirre, der Zorn Gottes und Fitzcarraldo, wie der Regisseur schon im Vorfeld des Kinostarts in einem Interview mit dem „Empire“-Magazin angekündigt hatte. Das reicht über eine eigene Version der Stromschnellen-Sequenzen aus den beiden Filmen bis zur Thematisierung des Goldwahns, dem auch Klaus Kinskis Aguirre einst in seiner Expedition durch den Urwald verfiel. Auch in Paddington soll Eldorado gefunden werden, dieser sagenhafte Schatz, dieses mythische Trugbild und Hirngespinst, das unermesslichen Reichtum verspricht. Antonio Banderas tritt dabei in einer Vielfach-Rolle als gieriger Kapitän auf, der sich im Zwiegespräch mit seinen Vorfahren befindet, welche er ebenfalls, ob Mann, ob Frau, alle im Alleingang verkörpert. Selbstverständlich ist das weit weniger radikal inszeniert als die Vorbilder von Herzog. Kein Extremkino in der Natur, keine echten Gefahren gibt es hier zu erleben, kein ähnlich anarchisches, performatives Filmemachen. Außerdem sind weder Antonio Banderas noch der süßliche Bär mit seinen Kulleräuglein dem Wüterich Kinski gewachsen – gar keine Frage! Immer dann, wenn es gefährlich oder überhaupt: natürlich, wild und ungezähmt werden könnte, setzt dieser Familienfilm auf modernste Tricktechnik und die reine Illusion. Vom Kampf gegen die Natur, von der Herzogs Filme auch erzählen, bleibt in Paddington die oberflächliche Geste und das digitale Trugbild, die sorgfältig hergerichtete Kulisse übrig.
Die naheliegende Familie-ist-wichtiger-als-Gold-Botschaft ist bei alldem schnell ausformuliert und es überrascht wenig, dass dieser touristische Abenteuer-Trip in der Ferne vor allem dazu taugt, die privaten Krisen in der Heimat besser bewältigen zu können. Nichtsdestotrotz schlägt Paddington in Peru in seinem letzten Akt erstaunliche Haken, die den Film auf eine interessantere Ebene heben. Paddington, der am Beginn des Films endlich offiziell Engländer wird und seinen Pass erhält, wird hier ebenso als Protagonist einer migrantischen Geschichte gelesen, die auf einmal zu einem kindgerecht aufbereiteten Diskurs über eine Zugehörigkeit und (kulturelle) Identität ausholt.
Paddington schließt hier an Motive an, die vor allem der erste Teil mit eröffnet hat, und schärft ihre Facetten. Er weiß um die Diskrepanz zwischen Herkunft und Heimat, setzt dem ideologischen Ideal der Kernfamilie die Wahlfamilie und einer vermeintlich statischen die dynamische, wandelbare und vor allem vielseitige Identität entgegen. Die Suche nach einer Wurzel des Ichs, was immer das bedeuten soll, wird damit konsequent auf den Kopf gestellt und die bloße Abstammung von ihren starren Zuschreibungen und Überhöhungen befreit. Rechte propagieren heute überall einen neuen alten Ethnopluralismus und Essenzialismus. Sie versuchen also, Menschen und angeblich homogene Menschengruppen vor dem Hintergrund eines rassistisch geprägten Weltbildes zu trennen, wer angeblich wo dazu- und hingehört. Leitkulturdebatten und ähnlicher Unsinn schließen sich häufig daran an. Dass dieser zunächst so altbacken und nach Konsens schielende Familien-Entertainmentfilm eine solche reaktionäre Ideologie durchkreuzt und derlei Aus- und Abgrenzungen final zu überwinden versucht, kann man im Rahmen der Paddington-Welt als verblüffend progressive Pointe und Provokation verstehen.