Pandemie

Gamgi

Südkorea 2013 · 122 min.
Regie: Kim Sung-su
Drehbuch: ,
Kamera: Lee Mo-gae
Darsteller: Jang Hyuk, Ae Soo, Park Min-ha, Ma Dong-seok, Yoo Hae-jin u.a.
Filmszene »Pandemie«
Eine hanebüchene Geschichte im besten Sinn – ein Kino-Märchen
(Foto: Busch Media Group/Kinostar)

Das perverse Vergnügen, Katastrophenfilme zu sehen

Lustig, spannend, grotesk und präzis: Pandemie ist populäres Unterhaltungskino im besten Sinn – und es zeugt davon, dass das europäische Kino zum Dutzend-Produkt unfähig geworden ist.

Mit einem Husten geht es los: Ein paar Dutzend illegaler Einwan­derer werden mit einem Container nach Korea geschleust. Am nächsten Morgen sind sie alle tot. Bis auf einen. Doch als der Schleuser-Container irgend­wann geöffnet wird, ergießt sich auch ein Schwall von Ratten aus der Tür, der nicht zu fangen ist und sich im Nu über die ganze Stadt verteilt. Ein Vogel­grippe-Virus ist mutiert; die Pandemie ist da.

Parallel zu diesem Anfang haben wir einen schweren Auto-Unfall gesehen, und ein paar Figuren kennen­ge­lernt, die zentral werden für den Rest des Films: Den Rettungs­sa­ni­täter Ji-koo und die Ärztin In-hae. Sie lernen sich kennen, als sie in ihrem verun­glückten Wagen gefangen ist, aus dem er sie rettet. Die Gefahr erhöht den Flirt­faktor, und wie es der Zufall und das Film­dreh­buch in Hollywood und immerhin auch in Südkorea wollen, verlieben sie sich bald inein­ander und werden das zentrale Paar, an dessen Geschichte entlang dieser Film die Geschichte einer ganzen Gesell­schaft erzählt.
Zudem ist die Medi­zi­nerin auf Virologie spezia­li­siert. So wird sie zu einer entschei­denden Schalt­stelle dieses Films, in der Wissen, Auftrag und Unge­wiss­heit sich verbinden.

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»In den letzten Wochen wurden Fälle von H7N9-Vogel­grippe in Shanghai, Sezuan und Zhiangze regis­triert.« – so klingt es auch in den Nach­richten. Gut, es ist die Vogel­grippe. Und die »Ähnlich­keiten mit tatsäch­li­chen Ereig­nissen und lebenden Personen sind tatsäch­lich ›coin­ci­dental‹. Denn tatsäch­lich wurde dieser Film bereits 2013 gedreht, vor sieben Jahren!«

Zugleich aber muss man sich als Zuschauer immer wieder kneifen und daran erinnern, dass dies nicht erst heute gedreht wurde. So realis­tisch ist alles hier, so sehr erinnert es uns an unsere unmit­tel­bare Gegenwart und die Vergan­gen­heit der letzten Monate. Zum Beispiel findet Regisseur Kim Song-soo in der einzigen, wenn man so will hyper­rea­lis­ti­schen Szene seines Films hervor­ra­gende Bilder für das, was wir inzwi­schen längst wissen­schaft­lich korrekt »Aerosol Ausstoß« nennen: Kleine feine Anima­tions-Bläschen verteilen sich – nur für uns sichtbar – nach jedem Husten eines der Erst-Erkrankten im ganzen Raum, und wir sehen, wie binnen Sekunden 20 weitere Menschen ange­steckt sind. Wir werden einigen von ihnen wieder begegnen, in den nächsten Minuten, und sehen, wie jeder von ihnen wieder 20 andere ansteckt und so weiter und so weiter – expo­nen­ti­elles Wachstum eben.

Auch hier sind alle längst kleine Virologen und Fachleute geworden. Wenn wir diesen Film sehen, nehmen wir daher teil an einer bis zu einem bestimmten Grad doppelten Beob­ach­tung: Einer­seits sehen wir den Film unbe­fangen als Zuschauer. Wir folgen einer fiktiven Erzählung, und möchten schlicht und einfach ein Unter­hal­tungs-Bedürfnis gestillt haben. Und wir wissen, dass sie fiktiv ist. Wir sind hier Teil­nehmer einer Kino-Achter­bahn­fahrt durch einen fiktiven Jahrmarkt, die uns für zwei Stunden mitreißen soll – und der das gelingt.

Zugleich aber sehen wir dies auch quasi objektiv, als jene Experten zweiter Ordnung, die wir alle als Teil­nehmer des öffent­li­chen Lebens in den letzten Monaten seit Ausbruch des Coro­na­virus durch Konsum von Tages­zei­tungen, durch das tägliche Verfolgen der Nach­richten, der Sonder­sen­dungen und der Talkshows in Radio und Fernsehen und Internet geworden sind.
Wir gleichen das, was wir sehen, also ab mit unseren eigenen Erleb­nissen – darin liegt im Prinzip das eigen­tüm­liche, perverse Vergnügen: Kata­stro­phen­filme mit realen Erleb­nissen zu verglei­chen.

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Im Film steht weniger der Virus und sein Ausbruch im Zentrum, als alles, was daneben erzählt wird: Von illegalen Arbeitern, von Gangstern, von moralisch korrupten Poli­ti­kern, von über­for­derten Behörden, von enga­gierten Hilfs­kräften, vom Lockdown und von Bürgern, die sich nicht an amtliche Auflagen halten – mit anderen Worten von allem, was uns nur allzu bekannt vorkommt.
Wir sehen Politiker, die nicht den Ratschlägen der Experten folgen – dann zu spät aber doch. Wir sehen Ausnah­me­zu­stand und Panik.

Immer aber ist der korea­ni­sche Kata­stro­phen-Thriller Pandemie aus dem Jahr 2013 auch exzel­lente Kino-Unter­hal­tung, die Liebe, Humor und Spannung verbindet. Klischee und Diagnose treffen sich in diesem Film, genaue Beob­ach­tung von Debatten, die wir aus unserer Gesell­schaft kennen, und reinste Speku­la­tion an der Grenze zur Kolpor­tage, und manchmal über sie hinaus. Mit anderen Worten: Das ist eine hane­büchene Geschichte im besten Sinn – ein Kino-Märchen.

Das muss man erstmal hinkriegen – und die freudige Über­ra­schung trifft aufrich­tiges Bedauern: Aus Amerika kennt man solche Filme, aber es gibt leider keinen euro­päi­schen Film wie diesen.

Pandemie hält allen halb­sei­denen Unter­hal­tungs­pro­dukten Europas einen Spiegel vor und trifft all jene euro­päi­schen Autoren­filmer und deren Anspruch ins Mark, die gern behaupten, sie wollten »ja Genre machen«.
Dieser Film macht es allen vor, widerlegt alle Ausreden.

Auch die euro­päi­sche Film­kritik ist diesem Werk nicht gewachsen: Allzu unisono ist das Verdam­mungs­ur­teil der empfind­samen Jünglinge, die aus Asien nur Autoren­filme mit minu­ten­langen Einstel­lungen und aus Korea nur Besäuf­nisse von Hong Sang-soo akzep­tieren wollen.

»Ein Dutzend-Produkt« sei dieser Film, schreibt ein solcher Jüngling unbedarft im »Film­dienst«. Das stimmt sogar. Aber genau aus dieser Fest­stel­lung lässt sich statt einem schnellen Verdam­mungs­ur­teil eine produk­tive Frage formu­lieren: Was sagt uns denn diese Fest­stel­lung über das euro­päi­sche Kino? Doch vor allem, dass es zum Dutzend-Produkt unfähig geworden ist.
Denn bloß weil etwas ein Dutzend-Produkt ist, muss es noch nicht schlecht sein. Christian Petzolds Filme zum Beispiel sind Dutzend-Produkte. Geschrieben und gedreht nach Schema F, schnöde Pastiches von alten Studio-Filmen, oft schlechter, jeden­falls nie besser als diese. Die Dutzend-Produkte eines phan­ta­sie­losen Förder­sys­tems, das vor allem das belohnt, was dieses Förder­system bestätigt und nicht aus dem Rahmen des Üblichen, Erwar­teten, Gewünschten schlägt. Euro­päi­sche Studio­filme.

Es gibt also gute und es gibt schlechte Dutzend-Produkte – das müssen manche Kritiker erst noch lernen. Die Wahr­schein­lich­keit, dass ein Dutzend-Produkt gut ist, ist sogar höher als bei den ach so origi­nellen, ach so indi­vi­du­ellen Autoren­filmen. Bei Werken, wo jeder das eigene Ego ins Zentrum stellt und in erster Linie sich selbst und seinen privaten Geschmack verwirk­licht.
Die Wahr­schein­lich­keit, dass man es mit einem richtig guten Film zu tun hat, ist am höchsten dort, wo sich beides trifft: Wo die Methode, die Konven­tionen einer jahr­zehn­te­langen Erfahrung über Publi­kums­wirk­sam­keit, die souveräne Beherr­schung von Technik und Handwerk zusam­men­kommen mit einem indi­vi­du­ellen Zugriff all dieser vorge­stanzten konven­tio­nellen Produk­ti­ons­mittel.

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In die Handlung mischt sich noch ein speziell korea­ni­scher Aspekt: Das gestörte, extrem miss­traui­sche Verhältnis zu den USA, die in Südkorea immer noch immer wie eine Besat­zungs­macht agieren und das Land als ihren gehor­samen Flug­zeug­träger ansehen.

So ist dies am Ende auch ein Polit-Thriller, in dem die alten Männer des alten Korea den Ameri­ka­nern gehorchen und mit dem neuen Korea der Jüngeren um Vorherr­schaft ringen, das dies nicht mehr tun will. Und dann droht ein mili­tä­risch-indus­tri­eller Komplex die Macht zu ergreifen, angeführt vom US-Botschafter.

Man sollte diesen Film zwar nicht über­schätzen. Unter­schätzen sollte man ihn aller­dings auch nicht. Wie Corona. Pandemie ist populäres Unter­hal­tungs­kino: Lustig, spannend, grotesk, über­zeichnet, grell und präzis.
Geht rein! Aus Europa bekommt ihr so etwas nicht. Und aus Amerika nicht so schnell.