Großbritannien 2017 · 71 min. · FSK: ab 12 Regie: Sally Potter Drehbuch: Sally Potter Kamera: Alexej Rodionow Darsteller: Kristin Scott Thomas, Timothy Spall, Patricia Clarkson, Bruno Ganz, Cherry Jones u.a. |
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Die Realität aus den Augen verloren |
Fast jeder Mensch hat ein Geheimnis. Kriminelle und Diktatoren sowieso. Selbst demokratisch gewählte Politiker sollen Leichen im Keller haben, wenn auch nur im übertragenen Sinne. Die Geschichte zeigt: Macht verdirbt den Charakter.
Umso interessanter sind die Fragen: Wie war ein Politiker, bevor die Macht ihn verdorben hat? Werden auch Frauen von der Macht korrumpiert? Wie macht die „Macht“ das überhaupt: erst Idealist, der die Welt verbessern will und dann –
Hokuspokus! Simsalabim! – plötzlich Pokerspieler um den eigenen, kleinen Vorteil?
The Party, der neue Film der britischen Regisseurin Sally Potter, liefert ein paar Hinweise. Einige sind vorhersehbar, einige überraschend.
Handlungszeit ist ein Abend, der Ort ein kleines Stadthaus, das Filmmaterial ist schwarz-weiß, der Plot denkbar simpel:
Die Politikerin Janet (Kristen Scott Thomas) freut sich über einen Sprung auf der Karriereleiter. Grund zum Feiern mit politischen Weggefährten und Freunden. Alle stark links angehaucht, daher extrem tolerant! Solche Menschen spotten nicht nur über den politischen Gegner, sondern auch über sich selbst. Sie sind überzeugt, das wird ein reizender Abend.
Der Zuschauer dagegen weiß: einer der Gäste, Tom (Cillian Murphy), täuscht vor, dass er zum Feiern gekommen ist. Unter seinem
Anzug steckt ein Revolver. Man wüsste gerne, auf wen er ihn abfeuern will. Es gibt nicht den geringsten Hinweis. Mehrmals kokst Tom sich im Badezimmer Mut an. Kommt es jetzt zur Auflösung der raffiniert aufgebauten Spannung? Und wie! Allerdings wird der Knall nicht durch Schüsse ausgelöst, sondern durch Worte. Ironische Sticheleien, die immer boshafter werden. Als ein paar verdrängte Wahrheiten ans Tageslicht drängen, verwandeln sich die feinsinnigen Intellektuellen in eine Herde
gekränkter Wilder.
Dass so ein sozialer Infarkt keine Fiktion ist, sondern Realität werden kann, zeigt die aktuelle Situation in Großbritannien. Als Sally Potter das Drehbuch entwickelte, tobte der Wahlkampf zwischen Brexit-Anhängern und -Gegnern. Seitdem haben Politiker zwei Mal mit strategischen Abstimmungen ein politisches Erdbeben ausgelöst. Um ihre Macht zu sichern oder zu vergrößern. Stattdessen haben sie Handlungsspielraum verloren und die Wähler das Vertrauen in die Politik.
Sally
Potter brillantes Kammerspiel ist auch das Porträt einer liberalen Elite. Sie ist so berauscht von sich selbst, dass sie die Realität aus den Augen verloren hat.
Trotz der düsteren Diagnose hinterlässt The Party keinen Kater. Der Film amüsiert wie ein intimes Fest, bei dem man unsichtbarer Zaungast sein darf.
Die durchweg großartigen Schauspieler haben aus ihren Rollen faszinierende Charakterstudien gemacht. Janets Gatte, Bill (Timothy Spall), oszilliert zwischen einfühlsamem Akademiker und todgeweihtem Rächer. Gottfried (Bruno Ganz) brilliert als Heilpraktiker. Der versucht zu heilen, zu vermitteln und zu
versöhnen. Doch wenn Weisheiten zu spät kommen, wirken sie wie banaler Kitsch.
Wer will, kann sich selbst fragen, wie gut habe ich die Leiche in meinem Keller versteckt? Mache ich alles richtig im Leben? Lautet die Antwort „Ja“, sollte man gewappnet sein, für alles, was bald passieren könnte...