USA 1998 · 87 min. · FSK: ab 12 Regie: John Waters Drehbuch: John Waters Kamera: Robert M. Stevens Darsteller: Edward Furlong, Christina Ricci, Mary Kay Place, Lily Taylor u.a. |
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Zwei Jungs aus Baltimore:
Der eine jobt als Hilfskraft im Fast-Food-Laden, hat eine etwas eigenwillige Familie und Freunde, und fotografiert so ziemlich alles, was ihm vor die Linse seiner billigen Second-Hand Kamera kommt und er für reizvoll erachtet – Mädchen, die sich im Bus die Beine rasieren, Rattenpärchen beim Liebesspiel in der Mülltonne, lesbische Stripperinnen, seine Freundin Shelley in ihrem über alles geliebten Waschsalon und besonders gerne seine
Familienmitglieder. Dann wird er bei einer kleinen, selbstorganisierten Ausstellung von einer New Yorker Kunsthändlerin entdeckt – und findet sich plötzlich wieder als gefeierter (und mißverstandener) Star der Kunstszene. Weil das ihm und den Menschen auf seinen Bildern aber bald allerhand Ungemach bereitet, muß er sich etwas einfallen lassen, um den Ruhm nach seinen eigenen Konditionen genießen zu können – und gründet in seiner Heimatstadt kurzerhand einen
utopischen Raum für Kunst abseits vom diktatorischen, zentralistischen und kapitalistischen System.
Der andere, aus relativ behüteten Verhältnissen, fängt als Jugendlicher an, zusammen mit Freunden reichlich bizarre Super8-Filme zu inszenieren. Die Produktionen werden größer (bleiben aber nicht minder eigenwillig) – und 1972 gelingt der Coup, der Filmgeschichte schreibt: Zum Finale von Pink Flamingos nascht der 300-Pfund Transvestit Divine – ohne Trick und doppelten Boden – vor laufender Kamera an einem frischproduzierten Hundehäufchen – und kein Publikum der Welt kann darauf einfach gleichgültig reagieren. Das Phänomen des Midnigh-Movies ist geboren; und der Regisseur und Impressario von Pink Flamingos wird zur Ikone des
amerikanischen Underground. Und auch als der Erfolg wächst und Hollywood die Möglichkeit für professionellere Produktionen schafft, bleibt er Baltimore und all seinen Freunden (aus denen sich meist Crew und Darsteller seiner Filme rekrutieren) treu – und findet eine Nische, um auch näher am Mainstream seine Vision ohne Kompromiße durchzusetzen.
Der eine Junge aus Baltimore ist Pecker, der andere John Waters. Und mit seinem Film über Pecker ist Waters ein mit- und hinreißendes Plädoyer gelungen für eine demokratische Kunst, die sich überall finden läßt, wo man nur die Augen richtig öffnet für die absurde Poesie des Alltäglichen.
Was Pecker zu solch einem riesigen Vergnügen macht – abgesehen davon, daß er einem auf lehrreiche Weise solch wundervolle Freizeitaktivitäten wie »Teabagging«,
»Shopping For Others« und den »Durch Oven« näherbringt – ist seine Liebe zu den eigenwilligen Charakteren.
Ob Peckers Schwester Tina, die auf »Trade« steht (straighte Männer, die für Schwule tanzen), ob die Obdachlosen, die Peckers Mutter in ihrem Second Hand Laden preisgünstig und dennoch topmodisch einkleidet, ob Großmutter Memama mit ihren selbstgemachten Marienerscheinungen, ob die Leute aus der New Yorker Kunstszene, die sich nur mal von ihren Hemmungen befreien
müssen, oder ob die leicht monsterähnliche Little Chrissy – heimlicher Star des Films – Peckers kleine, zuckersüchtige Schwester: John Waters liebt sie alle, gesteht ihnen allen Menschlichkeit und ein Recht auf ihre Eigenarten zu.
Pecker beweist noch deutlicher als alle seine bisherigen Filme, was eigentlich schon – läßt man sich nicht von den »Schockeffekten« blenden – in Pink Flamingos (und selbst davor) sichtbar ist: Waters inszeniert keine Freak-Shows, er blickt nicht herab auf »Andersartige«. Er ist begeistert von der Bandbreite der Möglichkeiten des Menschseins – von
denen ihm außer Intoleranz keine fremd ist. Und er feiert sie in seinem Werk, das seine Wurzeln in einer sehr tiefen Gutmütigkeit hat, auf sympathischste Weise.
Mit anderen Worten: Das angebliche enfant terrible John Waters ist der letzte große Humanist des amerikanischen Kinos.