Deutschland 2019 · 111 min. · FSK: ab 12 Regie: Bora Dagtekin Drehbuch: Bora Dagtekin Kamera: Moritz Anton Darsteller: Elyas M'Barek, Florian David Fitz, Jella Haase, Karoline Herfurth, Frederick Lau u.a. |
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Verzweifelter Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach einer anderen Welt |
»Nehmen wir an, wir lebten in einer Gesellschaft, in der der Mensch seine ursprünglichen vitalen Regungen von klein auf bejahen und ausleben dürfte, wo niemand ihn zwänge, Rituale der Ordnung und der Sauberkeit zu praktizieren, wo er von demütigenden Strafen verschont bliebe – was hätten wir es da nötig, uns zu verstellen, zu heucheln, zu lügen? Nicht einmal zur Aufrichtigkeit brauchte man uns noch anhalten, weil da, wo jeder dem anderen offen sich zeigte, auch keiner für seine Offenheit mit Nachteilen zu rechnen brauchte. Wir erkennen gleich, hier handelt es sich um eine Utopie, um das Traumbild einer Gesellschaft, für die der Mensch nicht geschaffen ist oder für die er noch nicht reif ist.« – Arno Plack, Ohne Lüge leben (1976)
Wir hatten bereits in unserer Videokritik zu Das perfekte Geheimnis vor ziemlich genau einem Monat feststellen müssen, dass Bora Dagtekins Komödie durchaus ambivalent rezipiert werden kann. Zwar wurde während unseres Dreiergesprächs deutlich, dass Drehbuch und schauspielerische Leistungen unbedingt lobenswert seien. Aber nicht nur die Moral der Geschichte, in der sich sieben Erwachsene während eines gemeinsamen Abendessens mit Mondfinsternis zu absoluter Offenheit verpflichten und als Zeichen dafür ihre Handys auf den Tisch legen, ist dann doch so regressiv, dass einem das Lachen schnell vergehen kann.
Inzwischen hat Das perfekte Geheimnis – wie üblich in solchen Fällen, Parallelwelten entfernt vom deutschlandweit durchwachsenen Kritikerecho – nach drei Wochen die 3-Millionen-Besuchermarke überschritten und sich damit zum erfolgreichsten deutschen Film des Jahres 2019 entwickelt, und dafür auch gleich den Bambi (als bester deutscher Film des Jahres, in dem er sich gegen 25 km/h und Der Junge muss an die frische Luft durchsetzte) und die Goldene Leinwand gewonnen. Das macht Dagtekins Film nicht besser. Die fragwürdig konstruierten Paarkonstellationen, die reißbrettartige, vorhersehbare, lange nicht in Gang kommende Handlung, das brave Zurücknehmen allzu schwarzer Humorismen tuen immer noch weh. Und dabei muss man Das perfekte Geheimnis nicht einmal mit Dagetkins viel besseren, weil bissigeren Komödienformaten Türkisch für Anfänger (2012) und Fack ju Göhte (2013) vergleichen; auch gegenüber der externen Messlatte einer so überraschenden und bösen – aber leider völlig gefloppten – Komödie wie Jan Henrik Stahlbergs Fikkefuchs wirkt Das perfekte Geheimnis wie eine mit Zuckerwatte ummantelte Billigbratwurst, oder vielleicht noch besser: die dunkle Seite des deutschen Komödienmondes.
Doch in einem zur Zeit mit guten Komödien nicht gerade gesegneten Deutschland kann man da vielleicht noch ein Auge zudrücken, denn besser ein bisschen Spass als gar keinen. Allerdings ist Dagtekins perfektes Geheimnis nicht allein. Denn die Mutter aller »Perfekten Geheimnisse«, Paolo Genoveses Perfetti Sconoscuiti kam schon im Februar 2016 in die Kinos, das französische Remake LE JEU – Nichts zu verbergen gibt es bereits auf Netflix und überhaupt wurde oder wird der Film in 18 Ländern adaptiert, ein sicherlich noch größerer Rekord als die drei Millionen Zuschauer in Deutschland; so groß sogar, dass es der Stoff ins Guinness Buch der Rekorde geschafft hat. Jede Fassung ist natürlich ein wenig anders, wird auf Lokalkolorit genauso Acht gegeben wie auf regionalen, moralischen Impetus und werden die Enden ein wenig variiert.
Dass ausgerechnet in Dagtekins deutscher Variante die Geschäftsfrau am Ende wieder im Sandkasten bei ihrem Kind sitzt und der Mann wieder zur Arbeit gehen »darf«, ist so düster, grotesk und zum Verzweifeln, dass es tatsächlich schon wieder fast zum Lachen ist. Dem eingangs zitierten Arno Plack wäre angesichts dieses weiteren perfiden Geschwürs von »Hitlers langem Schatten« wohl aber jegliches Lachen im Hals stecken geblieben.
Ansonsten hätte Plack an dem Remake-Erfolg seine – allerdings überraschende – Freude gehabt. Denn nach über 40 Jahren sein eigenes Werk derartig aktualisiert und bestätigt zu sehen, dürfte eines Philosophen wohl größtes Glück sein. Aber wer hätte schließlich vorhersehen können, dass gerade Digitalisierung und Internet mit ihren Heilsversprechen von »neutraler Gerechtigkeit« unsere Sehnsucht nach einer Welt der »Offenheit« in ihr völliges Gegenteil verkehrt, die Utopie einer »Welt ohne Lüge« unmöglicher und wichtiger als je zuvor ist?
Erst vor ein paar Tagen legte eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung offen, wie sich Angestellte durch das interne Mitarbeiter-Scoring bei Zalando »verstellen« müssen, um als erfolgreiche/r Mitarbeiter/in zu überleben. Man muss inzwischen also gar nicht mehr auf China zeigen, um die herrschende Moral zu verdrängen und zu erkennen, dass eine Vision wie die von Arno Plack oder die von Karl Ove Knausgård in seinem autobiografischen Projekt »Mein Kampf«, fast ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist.
Umso größer ist unsere Sehnsucht danach. Und der Erfolg eines Knausgård und erst recht eines Remakes wie Das perfekte Geheimnis ist natürlich alles andere als ein Geheimnis, sondern ein fast schon verzweifelter Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach einer anderen Welt, einer Welt – ohne Lügen.