Saudi-Arabien/D 2019 · 105 min. · FSK: ab 0 Regie: Haifaa Al-Mansour Drehbuch: Haifaa Al-Mansour, Brad Niemann Kamera: Patrick Orth Darsteller: Mila Al Zahrani, Khalid Abdulraheem, Dhay, Nora Al Awadh, Shafi Al Harthy u.a. |
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Eine Heldin unserer Zeit | ||
(Foto: NEUE VISIONEN) |
»Was ungewöhnlich angefangen hat, muß ebenso enden.«
- Michail Jurjewitsch Lermontov, Ein Held unserer Zeit (1840)
Die saudische Regisseurin Haifaa Al Mansour hat es also wieder getan. Nach einem Ausflug ins westliche Filmgeschäft, einer Filmbiografie über die englische Autorin Mary Shelley (2018), ist sie wieder nach Saudi-Arabien zurückgegangen, um sich erneut des Kernthemas ihres bisherigen Werks anzunehmen – der Emanzipation der Frau in Männer-dominierten Gesellschaften aus feministischer Perspektive.
War es in Mary Shelley eine junge Autorin im frühen 19. Jahrhundert, deren »Love-Trip« mit Percy Bysshe Shelley und dann Lord Byron Mansour immer wieder überraschende Aspekte abzugewinnen vermochte, hatte sie sich in ihrem Debüt Das Mädchen Wadjda noch weit mehr engagieren müssen, um den Film überhaupt realisieren zu können. Nicht nur war es der überhaupt erste in Saudi-Arabien realisierte Spielfilm, musste die Regisseurin ihre Anweisungen am Set aus einem geschlossenen Wagen an das Team übertragen, sondern war auch die Kern-Geschichte fast ein Unding für das Saudi-Arabien im Jahr 2012 – zeigte sie doch ein kleines Mädchen, das über das Fahrradfahren die starren gesellschaftlichen Tabus ihrer Heimat hinterfragt.
Seit Wadjda hat sich in Saudi-Arabien viel verändert. Damit sind nicht die gegenwärtig wegen der Corona-Pandemie-Panik auf Anordnung von Mohammend bin Salman (MbS) unterbundenen Pilgerströme nach Mekka gemeint, oder die durch MbS erfolgten Festnahmen von saudischen Prinzen wegen einer angeblichen Palastrevolte, oder die Zerlegung des Publizisten und MbS-Kritikers Jamal Khashoggi mit einer Kettensäge in der saudischen Botschaft Istanbuls im Oktober 2018. Nein, gemeint sind die – allerdings ebenfalls auf Anordnung von MbS erfolgten – Veränderungen in der saudischen Gesellschaft, durch die es MbS auf internationaler Bühne gelang, sich lange als positiv in Erscheinung tretender Reformer zu inszenieren: Er gestattete Frauen das Autofahren, erlaubte die Wiedereröffnung von Kinos und das Abhalten von Popkonzerten, alles Teil seiner »Vision 2030«, mit der MbS die Wirtschaft des Landes weniger abhängig vom alles dominierenden Ölgeschäft machen will.
Wie fragil diese Veränderungen im saudischen Alltag verankert sind, davon erzählt Haifaa Al Mansours neuer Film Die perfekte Kandidatin. Schnörkellos führt Mansour ihre großartig gespielte Heldin Maryam (Mila Alzahrani) ein, die sich als Ärztin nicht nur mit widerspenstigen alten Männern herumschlagen muss, die nicht von Frauen behandelt werden wollen, sondern sich auch über die nicht asphaltierte und an Regentagen fast unpassierbare Zufahrtsstraße zu ihrem Krankenhaus ärgert. Weshalb sie sich kurzerhand, und von bizarren Zufällen geleitet, entscheidet, in die saudische Lokalpolitik einzusteigen und sich zur Stadträtin ihres Bezirks wählen zu lassen.
Parallel dazu erzählt Mansour nicht nur den Alltag von Maryams Schwestern, die ebenfalls paritätisch-modern ins Erwerbsarbeitsleben integriert sind, sondern auch den von Maryams Vater, einem bekannten Oud-Spieler, der durch die Reformen von MbS nicht mehr nur auf Hochzeiten spielen darf, sondern erstmals eine Konzertreise mit einem klassischen Orchester antreten kann.
Dieser Plot reicht Mansour, um ein umfangreiches, differenziertes Porträt saudischen Alltagslebens zu inszenieren, in dem weiblicher neben bürokratischem Alltag steht und auch Zeit für einen faszinierenden Blick auf die klassische arabische Musik bleibt. Mansours präziser ethnografischer Blick ist dabei gerade deshalb so überzeugend, weil sie nicht die Schwarz-Weiss-Kontraste betont, sondern durch eine Unzahl an Facetten in Grau und Bunt und mit beeindruckenden Bildern und erzählerischen Nuancen eine Gesellschaft im Umbruch zeigt.
Mansour konzentriert sich dabei aber nicht nur auf die Komik des Alltags – ohne dabei ihre Heldinnen und Helden des Alltags zu verraten –, sondern gibt ihrer Geschichte auch für die düsteren, hoffnungslosen Momente Raum, zeigt, wie fragil eine Gesellschaft im Umbruch sein kann, zeigt, dass schon Kleinigkeiten ausreichen können, um »Fortschritt« auch wieder zu blockieren. Sie zeigt aber präzise und das mit großem Gefühl, dass leidenschaftliches Lieben, Leben und Alltag und vor allem auch leidenschaftliche Kunst selbst in einer Gesellschaft wieder aufblühen können, die diese basalen »Gesellschafts-Mechanismen« bis vor kurzem noch völlig aus ihrem offiziellen Diskurs verbannt hat.