Frankreich 2004 · 89 min. · FSK: ab 0 Regie: Éléonore Faucher Drehbuch: Éléonore Faucher, Gaëlle Macé Kamera: Pierre Cottereau Darsteller: Lola Naymark, Ariane Ascaride, Jackie Berroyer, Thomas Laroppe u.a. |
![]() |
|
Anlehnungsbedürfnis |
Die Kamera schweift über die aufgebrochene Erdkruste, der Blick wird weiter: Ein rotgelocktes Mädchen schneidet Kohl vom abschüssigen Feld. Sie tauscht ihn gegen Hasenfelle, die sie kunstvoll bestickt. Der erste, nahe Blick der Kamera gilt in Perlenstickerinnen immer der Struktur und Beschaffenheit der Dinge. Diese Großaufnahmen verleihen den Objekten eine von Aktion und Plot völlig unabhängige Existenz, in ihrer Dinghaftigkeit sprechen sie davon, wie man sie sich erfahrbar oder sogar zu eigen machen kann, mit allen Sinnen. Erst der zweite Blick der Kamera ist dann umfassender, widmet sich der Geschichte, die elementarer nicht sein könnte: Es geht um Leben und Tod, Geburt und Verlust, Schmerz und Freundschaft.
Claire, gerade 17, ist schwanger. Das soll niemand wissen, deshalb versteckt sie ihren Bauch, auch vor sich selbst. Sie möchte das Kind zur Adoption freigeben, die Entscheidung ist unumstößlich. Auch ihre Leidenschaft, das Sticken, ist eine heimliche Angelegenheit. Geld verdient sie an der Supermarktkasse. Sie ist sehr hart gegen sich und andere, niemand kommt an sie heran.
Das ändert sich erst, als sie auf Madame Melikian, die große Perlenstickerin der Pariser Haute
Couture, trifft. Diese hat vor kurzem ihren einzigen Sohn bei einem Motorradunfall verloren und vergeht in Sinnlosigkeit. Claire soll für sie einige maschinelle Stickerien ausführen.
Fast wortlos fangen sie an, sich zu verstehen, zu erkennen, durch die delikaten, transparenten Stoffe hindurch. Wie eine komplexe, schillernde Stickerei, die Zeit braucht, um gedacht, entwickelt und vollendet zu werden, entsteht eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen, die schließlich auch das
jeweilige Verhältnis zur Welt und zu sich selbst verändert. Schritt für Schritt befreit sich Claire aus den selbst auferlegten Zwängen – sie befreit ihre Haare, ihren Bauch, ihre Zuneigung zur eigenen Familie und ihre Sexualität.
Diese Geschichte von Annäherung und Selbstentdeckung inszeniert Eléonore Faucher in ihrem ersten Langspielfilm auf sehr einfühlsame Weise. Hoffnungsvoll ist die Botschaft: Selbst und gerade im größten Schmerz – denn je stärker man sich abschließt, desto empfindsamer ist man zutiefst – ist Freundschaft möglich, Zuneigung, Liebe.
Ihre Hauptdarstellerinnen Lola Naymark (Claire) und Ariane Ascaride (Mme Melikian) spielen die Entwicklung dieser Freundschaft sehr überzeugend. Beide Frauen schließen sich nach außen hermetisch ab. Es gelingt den Schauspielerinnen, alle Gefühlsschattierungen einer beginnenden Freundschaft unter schmerzhaften Bedingungen, durch dicke Panzer hindurch auszudrücken: Zurückweisung, Bewunderung, Angst vor Enttäuschung, Überwindung, Neugierde.
Die Nähe zwischen
Claire und Mme Melikian kann nur deshalb entstehen, weil sie, außer ihrer selbstgewählten Isolation, kaum etwas gemein haben: Claire wird gerade erwachsen, Mme Melikian hat schon alles erlebt und gesehen. Für Claire wird diese Begegnung zur Initiationserfahrung, Mme Melikian gibt sie den Glauben an das Leben zurück.
Faucher komponiert das Aufblühen in der Freundschaft gekonnt und sensibel aus allen filmischen Mitteln: Licht, Ton, Kamera, Farbdramaturgie, Kostüm, Ausstattung. So trägt Claire etwa von Beginn an einen petrolfarbenen Wollmantel und einen dicken grünen Mohair-Pullover, um ihren Bauch zu verstecken – auffällig auch als komplementärer Kontrapunkt zum roten Haar, ebenfalls zunächst in einen türkisfarbenen Turban gewickelt. Diese dicken Materialien in vielen Lagen und gedeckten Farben weichen später den fließenden, durchbrochenen weiblichen Kleidern mit den fröhlichen Mustern. Es wird heller, Sonnenstrahlen dringen in das Atelier, draußen beginnt der Frühling.
Die ländliche Umgebung und die Dorfgemeinschaft sind sehr authentisch gezeichnet, wenn auch mit wenigen Strichen. Nebendarsteller existieren nur in ihrer Verbindung zu den beiden Hauptfiguren und vor allem nur aus deren Perspektive. Genau diese Konzentration der Wahrnehmung macht aber das Kinoerlebnis so intensiv. Die Aufmerksamkeit wird von Eléonore Faucher bewusst gebündelt, es zählt nur, was für die beiden Frauen unmittelbar und subjektiv von Bedeutung ist – auch wenn man manchmal gerne mehr erfahren würde. Nicht alles auszuerzählen ist eine wesentliche Stärke des Films – es würde die Einfühlung in die Hauptcharaktere nur verwässern, wenn man beispielsweise unabhängig von Claires Gefühlslage mehr über den Vater des Kindes erfahren würde.
Selbst wenn der Plot mitunter das Klischeehafte streift, geben die Schauspielkunst der Darstellerinnen und die schönen, aussagekräftigen Bilder der Geschichte Einmaligkeit und bewahren sie davor, tatsächlich ins Klischee abzurutschen. Mit Perlenstickerinnen ist Eléonore Faucher ein eindrucksvolles, symphonisches Plädoyer für die Macht von Freundschaft und Vertrauen gelungen, das in seiner konzentrierten Reduktion und konzertierten Opulenz außergewöhnlich ist.