Petrov's Flu

Petrovy v grippe

RUS/F/D/CH 2021 · 152 min. · FSK: ab 16
Regie: Kirill Serebrennikow
Drehbuch:
Kamera: Wladislaw Opeljants
Darsteller: Semjon Sersin, Chulpan Khamatova, Wlad Semiletkow, Juri Kolokolnikow, Alexander Ilin u.a.
Filmszene »Petrov's Flu«
Beginnendes Delirium
(Foto: Farbfilm/Salzgeber)

Die Russische Krankheit

Geniales Delirium: In Kirill Serebrennikovs Petrov’s Flu wird eine Dauergrippe zur Metapher

Ein harter Anfang, fast wie in der post­so­wje­ti­schen Version von Chris­to­pher Nolans Thriller Tenet oder eines anderen Hollywood-Thrillers: Ein Terrorakt, bei dem eine Handvoll Anzug­träger von einer bewaff­neten Bande an die Wand gestellt und getötet wird. Die Botschaft für die Zuschauer: Absolute Hilf­lo­sig­keit. Alles ist möglich! In der Welt und in diesem Film.

Das setzt den Ton im neuen großar­tigen Film des Russen Kirill Sere­bren­nikov, auch wenn sich dieser Auftakt schnell nur als die erste von vielen Fieber­phan­ta­sien der Haupt­figur entpuppt.

Petrov, diese Haupt­figur, ist ein Kari­ka­tu­rist und Mecha­niker, der kurz vor seiner Scheidung steht. Er hat Grippe, und darum hallu­zi­niert er. Von Anfang an überträgt sich das auf die Bilder selbst. Aber in Wahrheit dehnt der Film diesen albtraum­haften Zustand auf alle Bereiche aus und macht ihn zur korrekten Beschrei­bung der Welt an sich, jeden­falls der russi­schen Welt: So erleben wir eine mentale Reise durch Petrovs Heimat­stadt, die östliche Provinz­me­tro­pole Jeka­te­rin­burg und durch die Geschichte seines Landes, von seiner Kindheit in den 1970er Jahren bis zu der Zeit nach dem Untergang der UdSSR in den späten Neun­zi­gern. Lose zusam­men­ge­halten werden diese Episoden zwischen Surrea­lismus, Absur­dität und Nostalgie schwan­kend durch die Titel­figur.

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Sie sind hart, und laut, sie tragen lange schmut­zige Bärte und essen fort­wäh­rend Gurken: Es sind Russland-Klischees, denen man hier begegnet, auch Klischees, die Russland von sich selber hat. Und wie es das Wesen der Klischees ist, sind manche von ihnen leider – oder sicher­heits­halber – wahr.
Das Ganze spielt sich vor einer erschre­ckend vertrauten Kulisse ab: getäfelte Gebäude, Spiel­plätze, finsterer Himmel, kostü­mierte Kinder­ma­ti­neen und staubige Schau­fenster. Kind­heits­er­in­ne­rungen in Super-8. Auf dem Akkordeon wird »Lacchia mi pianga« gespielt, viel Nostalgie.
Der Zuschauer muss nichts weiter über die Figuren wissen: Sere­bren­nikov malt sie mit großen Strichen, ohne eine Hinter­grund­ge­schichte zu erzählen oder Psycho­lo­gi­sches heraus­zu­stellen. Die Charak­tere sind allesamt stereotyp, sie sind Gogols »kleine Leute«, und um sie geht es in dem Film gar nicht. Es geht um die Gesell­schaft. Das Fieber in diesem künst­le­risch heraus­ra­genden, mörde­risch surrealen Fieber­traum ist das eines kranken Russlands. Die Grippe ist der Anzie­hungs­punkt, die Haupt­figur und die Hauptidee – er entlarvt die graue Realität, in der wir alle, nicht nur die Russen leben müssen.

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Man kann beob­achten, dass sich der Exzess zunehmend in bestimmten zeit­genös­si­schen Filmen fest­zu­setzen scheint. Aber es gibt sehr verschie­dene Arten von Exzess. Im neuesten Spielfilm von Kirill Sere­bren­nikov ist es ein audio­vi­su­elles Delirium.
Dies ist Grand Guignol: Ein umfas­sendes Porträt des Univer­sums in einer Zeit der Epidemien, eine erwei­terte Darstel­lung Russlands (nicht modern, nicht sowje­tisch, sondern das »ewige Russland«) und eine psycho­lo­gi­sche Erkundung der geheimen Obses­sionen, Sünden und Talente, die selbst in den scheinbar gewöhn­lichsten Menschen lauern.
Sere­bren­nikov, Film­re­gis­seur, Opern­re­gis­seur und Thea­ter­ma­cher, poli­ti­scher Dissident und Kriegs­kri­tiker, wurde noch bekannter als durch seine Film- und Thea­ter­ar­beiten dadurch, dass er vom Putin-Regime drang­sa­liert und mit Prozessen überzogen wurde. Wie Oliver Stone, Paul Verhoeven, Michael Haneke, Bertrand Bonello gehört Sere­bren­nikov zu den Provo­ka­teuren des Systems. Des Systems, in dem er lebt, und des Systems als solchem: Der univer­salen Ordnung des Anstands und der stillen Konven­tionen, über die »wir uns doch alle einig sind«.
Seit letztem Jahr lebt er in Deutsch­land.
Petrov’s Flu ist zumindest formal die Verfil­mung des gleich­na­migen Romans eines anderen Unru­he­stif­ters, des erst 43-Jährigen russi­schen Autors Alexei Salnikov, das im Original etwa »Die Petrovs in und um die Grippe« bedeutet.

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Sere­bren­ni­kovs Verfil­mung, die 2021 beim Festival von Cannes Premiere hatte, ist ein faszi­nie­render, erschüt­ternder Fieber­traum. Die Kamera Vladislav Opelyants' ist virtuos und perfekt, die eigen­wil­lige Musik des Sound­tracks, bei dem »Zero« und »GrOb« plötzlich von einer Arie von Händel oder einem Akkor­de­on­kon­zert von Vivaldi unter­bro­chen werden, trägt zum Effekt des Orien­tie­rungver­lusts bei. Das Produk­tion-Design, das so schön ist wie die altmo­di­sche Farb­ge­bung, zeichnet eine Alltags­hölle des Mate­ria­lismus.
Semyon Serzin als Held Petrov, Chulpan Khamatova in einer ihrer besten Rollen und Yulia Peresild (deren Schnee­mäd­chen-Marina im Film ihren eigenen Schwarz­weiß­film erhält) bekommen wie in einer Jazzband mehr oder weniger solide Soli.
Von der chaotisch aufge­platzten Geschichte versteht man dagegen nur Fragmente. Und so soll es auch sein. So muss es sein. Denn viel­leicht gibt es da gar nichts zu erklären. Viel­leicht muss man das fühlen, muss Spaß haben am Dreck und der Mensch­lich­keit im Destruk­tiven, an der schwarzen Welt­weis­heit, die hier zutage tritt.

Sere­bren­nikov zeigt ein hartes Bild der russi­schen Gesell­schaft der 90er Jahre, das unver­hohlen auch auf die Gegenwart zielt.

Der Film nimmt die Wider­sprüch­lich­keit und das Barocke seiner Bilder­welt ohne Scheu an und überführt sie in einen Bewusst­seins­strom, der von einer radikalen Subjek­ti­vität bestimmt wird. Die Bilder selbst bekommen ein Eigen­leben und einen eigenen Willen. Vergan­gen­heit und Gegenwart, Realität und Traum, Wahr­neh­mung und Taumel folgen ohne erkenn­bare Ordnung oder Abstim­mung aufein­ander – bis kleine Details, Sätze, die sich wieder­holen, oder Situa­tionen, die aus einem anderen Blick­winkel betrachtet werden, der Handlung einen Sinn zu geben beginnen. Und dann stellt man mit einer gewissen Über­ra­schung fest, dass alles, was man gesehen hat, nichts anderes ist, als die Geschichte eines Mannes, der von einem Bild aus seiner Kindheit besessen ist, als die Chronik eines Landes, das in einer Epoche verankert ist, die es gleich­zeitig verun­glimpft und nach der es sich sehnt.

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Hustend, niesend, schwit­zend… und im Delirium kommt man viel­leicht auch als Zuschauer aus dem Kino, nach diesem genial-fiebrigen radikalen Film, der mit einem Erschießungs­kom­mando beginnt, und sich dann langsam steigert.

Kirill Sere­bren­nikov gelingt ästhe­tisch heraus­ra­gendes Achter­bahn­kino, in dem inspi­rierter Eklek­ti­zismus dominiert: Ein fiebriger Film über die chro­ni­sche Krankheit einer fiebrig-taumelnden russi­schen Gesell­schaft und ein rebel­li­sches Manifest gegen den natio­na­lis­ti­schen Geist, nicht nur den russi­schen.
Dies ist auch die unglaub­lich treffende Beschrei­bung des Moments, in dem die Mensch­heit heute fest­steckt.