Rumänien 2009 · 115 min. Regie: Corneliu Porumboiu Drehbuch: Corneliu Porumboiu Kamera: Marius Panduru Darsteller: Dragos Bucur, Vlad Ivanov, Ion Stoica, Irina Saulescu u.a. |
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Beckett in Rumänien |
Ein junger Mann verlässt ein Haus. Es ist offenbar morgens, er trägt einen Tages-Rucksack. Ein anderer, etwas älterer, vielleicht Anfang, Mitte 30, nimmt die Verfolgung auf. Dass der eine den anderen verfolgt, ist sofort erkennbar durch dessen Blicke, dadurch, wie er sich im Hintergrund hält, nahe an den Wänden und Hauseingängen, wie er sein Tempo dem des Vordermanns anpasst, mal verlangsamt, dann wieder beschleunigt. So gehen sie, minutenlang hintereinander durch die Straßen einer kargen Vorortgegend aus fünfstöckigen Mehrfamilienbauten und Parkplätzen, Arbeiterwohnungen. Sie war bestimmt nie schön, diese Gegend, jetzt aber ist sie richtig heruntergekommen. Die Straßen sind nicht geteert, Dreck liegt herum, Unkraut wächst an den Bürgersteigen. Das einzig Bunte hier sind eine Rumänien-Flagge, und eine Flagge der EU am Eingang der Schule, in deren Tür der verfolgte junge Mann verschwindet.
Die Kamera zeigt auch später selten den Himmel, bleibt nahe am Boden auf Augenhöhe. Kein Dialogsatz fällt in diesen ersten fünf, sechs Minuten; zu erleben ist ein Kino der Blicke: Man sieht einem Menschen dabei zu wie er einen anderen beobachtet. Indem wir ihn begleiten, identifizieren wir uns mit ihm.
Eine Urszene des Kinos: Verfolgungsjagd, Bewegung, Action – hier aber unter der Decke der Alltäglichkeit. Die beiden, Verfolger und Verfolgter, und zugleich der unsichtbare Dritte im Bunde, die Kamera des Regisseurs, werden sich bis zum Ende des Films nicht trennen. Immer wieder gibt es Momente solcher geduldiger Beobachtung: Szenen in denen die Kamera mit Weitwinkel-Objektiven den ganzen Raum als Totale zeigt und zwei Punkte in ihm für uns Zuschauer verbunden sind; Szenen, in denen der Verfolger, den wir begleiten, an einen Strommast oder eine Laterne gelehnt wartet. Dieser Verfolger ist, wie sich herausstellt Polizist, und auch diese Figur des Aufklärers ist ein Urtyp des Kinos wie überhaupt der Moderne: Wahrheitssuche als verdeckte Ermittlung. Er heißt Cristi, bald darauf sieht man ihn auf einem Revier. Verbeulte Metallschränke bergen Aktenordner, alte Computer stehen auf roh zusammengehauenen Holztischen. Jetzt wird viel gesprochen, zuerst mit Kollegen über andere, über die Arbeit, dann mit einem Chef über den aktuellen »Fall«. Dieser betrifft den jungen Mann, den Cristi verfolgt, weil er Haschisch raucht – nach rumänischem Recht droht ihm dafür eine mehrjährige Haftstrafe. Christi hält seine Ermittlungen für inhaltlich sinnlos, weil der Schüler kein Dealer ist, und für moralisch falsch, weil Haschischkonsum in anderen EU-Ländern längst kein Strafdelikt mehr ist. Der Westen ist eigentlich auch für seinen Chef ein Maßstab, wenn es darum geht, wohin man seine Hochzeitsreise macht, und ob Bukarest den Titel »kleines Paris« verdient. Im Fall des Schülers aber lässt er nicht mit sich reden. Er liest sowieso seine Akten nicht, und hört schlecht zu, wenn es um Inhalte geht, ihn interessiert nur die formale Erfüllung der Vorschriften. Und um die zu erreichen, über er Druck auf Cristi aus.
So erlebt man Cristi im Widerstreit: Gerade weil er ein guter Polizist sein will, geht es auch ihm um die Wahrheit, nur dass die eben nicht mit der formalen der erfüllten Vorschriften identisch ist, sondern komplizierter. Cristi will dem Verdächtigen keine Falle stellen, im Gegenteil sammelt er auch entlastende Indizien. Hinzu kommt der Alltag des Ermittlers: Im Büro verbringt er unglaublich viel Zeit mit Gängen von Abteilung zu Abteilung, dem Ausfüllen von Formularen, das ihm selbst sinnlos erscheint, mit Gesprächen mit Kollegen, die ihm auch zu verstehen geben, dass sie von dem Fall nicht überzeugt sind. Dazu kommt seine private Situation: Er ist frisch verheiratet, und zuhause unterhält er sich über komplizierte Gedicht-Interpretationen und die Definition von Schönheit – was man in seinen Details durchaus auch als subtilen Selbstkommentar des Films zu verstehen hat.
Mehr und mehr spitzt sich Christis ethisches Dilemma zu. Ist es wirklich nur Zufall, dass er bei einer Nummernschild-Abfrage das »J« als »J wie Judas« buchstabiert, dass er selbst Christi heißt? Cristis Situation ist im mehrfachen Sinn eine absurde. Tatsächlich denkt man an die Szenarien Kafkas und Becketts, an Romane Sartres und Camus'. Am Ende mündet alles in ein langes sophistisches Streit-Gespräch irgendwo zwischen philosophischem Diskurs und bürokratischer Rabulistik. Es geht darin um das Verhältnis von Legalität und Legitimität, Gesetz und Gewissen, Recht und Gerechtigkeit und um die Pflichten eines Polizisten: Sogar ein Wörterbucheintrag wird aufgesucht, doch auch dort ist keine endgültig befriedigende Definition von »Polizist« zu finden.
Corneliu Porumboius zweiter Spielfilm – nach dem preisgekrönten Debüt 12:08 Östlich von Bukarest 2006 – erinnert in seinem Sinn für Timing und der Verbindung von langen Szenen mit intensiver Spannung an Robert Bressons Pickpocket, und besitzt zugleich alle Tugenden des aktuellen
rumänischen Kinos: Genaueste, geduldige Beobachtung von Figuren und ihren Situationen, zugleich deren clevere Zuspitzung bis hin zu einer – wieder absurden – Situationskomik. Der Film nimmt sich Zeit, ist trotzdem spannend und intensiv, ja kurzweilig. Porumboius Rumänien hat dabei nichts mit jenem betont schmutzigen, moralisierenden Sozialrealismus gemeinsam, der seit Cristian Mungius Cannes-Gewinner 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage das internationale Image des rumänischen Kinos monopolisiert – obwohl Mungius Film schon deshalb ganz untypisch für die »Neue Welle Rumäniens« ist, weil er unter der Ceausescu-Diktatur spielte.
Die Diktatur ist auch bei Porumboiu präsent. Aber anders: In ihren Folgen für die Köpfe der Menschen, wo sie weiterlebt, und für die Obrigkeit. Folgt man Porumboiu, dann ist Demokratie in der Praxis nur eine
Diktatur mit anderen Mitteln, und das Antlitz der blinden Justitia des Rechtsstaats nur die Maske schierer Willkür. In diesem Zusammenhang leistet der passive, anständige Polizist Cristi auf seine Art Widerstand.