Schweden/Finnland 2004 · 105 min. · FSK: ab 12 Regie: Reza Bagher Drehbuch: Reza Bagher, Erik Norberg Kamera: Robert Nordström Darsteller: Max Enderfors, Andreas Af Enehielm, Niklas Ulfvarson, Tommy Vallikari u.a. |
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Der Polarkreis. Nördlich davon geht die Sonne im Sommer nicht unter – und im Winter niemals auf. Ein geographischer Wendepunkt.
Niila und Matti sind Freunde auf den ersten Blick: Schon während ihrer ersten Begegnung schließen die beiden Knirpse Popelbrüderschaft. Gemeinsam träumen sie von der weiten Welt, von Paris, dem Himalaja und China, das man zweifelsohne direkt über die Hauptstrasse von Vittula erreichen kann, wenn man nur lang genug fährt. Vittula, das ist ein Kaff im nördlichen Zipfel Schwedens, wo die Menschen fließend Finnisch sprechen und ansonsten Schwedisch mit einen seltsamen Dialekt.
Überhaupt ist die Gegend nichts für Weicheier – der Alkohol fließt in Strömen, die Männer protzen beim Armdrücken oder im Saunawettschwitzen. Und die furchterregend voluminösen Frauenzimmer ziehen sich beim Fingerhakeln gegenseitig über den Tisch. Wer da nicht reinpasst, für den gibt es nur einen verächtlichen Begriff: Knapsu!
Gut, wenn dann einer eine große Schwester hat, die »up to date« ist. Mit Lidstrich, toupierter Frisur und allem drum und dran. Und der andere ein paar hasenzähnige britische Cousins in petto hat, die ihm eine Platte schenken: Populärmusik! Oder mit anderen Worten – »Rock 'n' Roll!« Diese Initialzündung wirbelt das Leben von Niila und Matti komplett durcheinander. Oder, wie Matti sagt: »Ist man erst mal infiziert, ist Rock and Roll überall!« Sogleich legen sie los, zunächst auf einer Pappgitarre, später mit diversen schrottreifen Instrumenten. Leider ist Musisches für die rauen Nordländer vor allem eines: »knapsu« – also was für Schwächlinge. Doch weder Hohn und Spott, noch Schläge und schon gar nicht verfeuerte Gitarren können die Freunde abschrecken.
Und dann kommt ein rettender Engel in knallroter Bikermontour geradewegs in ihr Leben geradelt: Der neue Musiklehrer Greger hat an einer Hand nur einen penisförmigen Daumen, aber er ist ein echter »Rock 'n' Roller«. Und das Wunder geschieht: Vittula hat seine erste Rockband. Welcome to the Sixties.
Der aus dem Iran stammende Regisseur Reza Bagher hat sich an einen der erfolgreichsten schwedischen Romane überhaupt gewagt. Dreimal hatte er schon abgelehnt – das vierte Drehbuch schrieb er lieber selbst: »Man hat mir prophezeit, das sei künstlerischer Selbstmord«, sagt Bagher. Denn Mikael Niemis fulminanter Roman ist Kult: Er ist nicht nur in Schweden eine sensationeller Erfolg, er wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt und allein in Deutschland rund 100 000 mal verkauft.
Tausende Kinder haben sie gecastet für die Rollen von Niila und Matti. Und wie das Schicksal es will, stammt der doppelte Niila aus Helsinki, der doppelte Matti aus Schweden. Die übrige Crew war buntgemischt. Der Busfahrer, der das Wettrennen gegen den Musiklehrer verliert, stammt original aus Vittula. Ebenso der Schulleiter. Andere Rollen sind mit hochkarätigen Schauspielern besetzt: Niilas Mutter gibt Kati Outinen – eine der wichtigsten Darstellerinnen von Aki Kaurismäki.
Grandios hat er seine Sache gemacht, der iranisch-schwedische Filmemacher. Die unwiderstehliche Mischung aus magischem Realismus und dem von schrägen Vögeln beseeltem Kosmos ist ebenso herzzerreißend witzig wie abgrundtief traurig. Und spätestens als Twentysomething wird man zurückkatapultiert in eine Zeit, in der das Leben sich angesichts einer Entscheidung zum ersten Mal unwiderruflich gespalten hat. Aber das merkt man eben immer erst später.
Der Verrat der Freundschaft ist einer der düsteren Aspekte des Films. Matti lässt für ein Mädchen den ersten wichtigen Gig der Band sausen. Niila gibt alles, aber entschwindet dann per Autostop mit dem nächstbesten Laster. »Der kommt wieder«, sagen die Bandkollegen zuversichtlich. Nur Matti erwidert: »Hier gibt es für ihn nichts, für das es sich lohnt, zurückzukommen.« Eine Erfahrung, die Regisseur Bagher mit dem Protagonisten teilt – auch er ging nie zurück in den Iran. »Ich wollte Niila den Trick beibringen, an den Tod zu denken, wenn er ein Mädchen anspricht«, erzählt Matti. Denn was machte es schon aus, wenn das Mädchen einen auslacht – immerhin stirbt man sowieso in ein paar Jahrzehnten. »Es war der einzige Ratschlag, den Niila je befolgte. Er begann, wesentlich mehr an den Tod zu denken als an Mädchen«, sagt Matti. Kein Wunder, denn Niila hat sein Herz schon längst verloren – an Matti, den untreuen Freund.
Und dann ist Niila am Ende tatsächlich tot – wie, wieso und weshalb erfährt man nicht. Matti verstreut seine Asche – nicht in Vittula, sondern im Himalaja, versteht sich. Da, wo er immer hinwollte und wo auch der Film irgendwann angekommen ist: Irgendwo zwischen Himmel und Erde.