Porträt einer jungen Frau in Flammen

Portrait de la jeune fille en feu

Frankreich 2019 · 122 min. · FSK: ab 12
Regie: Céline Sciamma
Drehbuch:
Kamera: Claire Mathon
Darsteller: Adèle Haenel, Noémie Merlant, Luàna Bajrami, Valeria Golino, Christel Baras u.a.
Liebes-Wallung vor Brandung

Die Regeln des Sehens

Sie rennt auf den Abgrund zu, wild, haltlos – und erst ganz kurz vor der Klip­pen­kante stoppt sie. Davon habe sie schon immer geträumt, meint die junge Héloïse. Wovon, will ihre Gefährtin wissen: Sterben? (»Mourir«) Nein: Rennen! (»Courir«).

Es gibt keine Männer auf der kleinen Bretagne-Insel, wo eine verarmte Comtesse (Valeria Golino) im 18. Jahr­hun­dert haust. Und doch sind die Männer allge­gen­wärtig – wenn es darum geht, wie Frauen sich bewegen, was Frauen tun, wie sie schauen und begehren dürfen.

Die Comtesse selber hat es wegen der Heirats­po­litik an diesen verlas­senen Ort verschlagen, wo sie selten noch ihre Mutter­sprache vernimmt. Aber das heißt nicht, dass sie auch nur auf den Gedanken käme, ihren Töchtern ein ähnliches Schicksal zu ersparen. Sie nimmt die Welt, in die sie geworfen wurde, als gegeben und unver­än­der­lich.

Die Geschichte von Héloïse (Adèle Haenel) und Marianne (Noémie Merlant) beginnt als Verrat: Héloïses ältere Schwester sollte mit einem italie­ni­schen Nobelmann verhei­ratet werden. Sie stürzte sich statt­dessen tatsäch­lich ins Meer. Also wird Héloïse aus dem Kloster geholt. Und ein Portrait soll nun dazu dienen, diesen »Ersatz« dem wohl­ha­benden Zukünf­tigen schmack­haft zu machen.

Doch ein Maler schei­terte bereits an Héloïses Weigerung, Modell zu sitzen. Fast alles an so einem Verlo­ckungs- und Verlo­bungs­por­trait lässt sich zwar rein nach dem Diktat des Genres pinseln – doch ganz ohne ein Abbild des Antlitzes geht es doch nicht.

So holt man also die Malerin Marianne auf die Insel. Die es als Tochter eines berühmten Künstlers in die Zunft geschafft hat. Diesen Auftrag aber vor allem einem der wenigen damaligen Vorzüge ihres Geschlechts verdankt: Sie kann sich als Gesell­schaf­terin ausgeben, die viel Zeit allein mit der unwil­ligen Braut verbringt. Um sie dabei insgeheim zu studieren, und das Bildnis aus dem Gedächtnis zu malen.

Als Héloïse diesen Verrat entdeckt, ist es nicht die Täuschung, die sie wahrhaft empört: Es ist das Resultat auf der Leinwand.

Denn was da prangt, ist kein Blick auf sie. Es ist nur das Bild der Maske, der Rolle, die die Gesell­schaft, die die Männer von ihr verlangen.

Es ist nichts als die zu Ölfarbe und Pinsel­stri­chen geron­nenen »règles, conven­tions, idées« (Regeln, Konve­tionen, Ideen) der verhassten Welt­ord­nung.

Héloïses Rache ist perfide. Sie macht aus dem Verrat eine Heraus­for­de­rung: Ja, sie wird Marianne Modell sitzen. Aber wenn Marianne sie schon malt, dann soll sie ihre wahre Persön­lich­keit einfangen.

Héloïse möchte von Marianne gesehen, wirklich und im Inneren gesehen werden.

Es ist eine grausame Aufgabe: Je mehr Marianne ihre wachsende Liebe zu Héloïse in ihre Arbeit legt, je gewisser wird sie Héloïse bald an den Italiener verlieren.

Sie hat nur die Wahl, Héloïse zu enttäu­schen – oder, indem sie die liebende Erkenntnis einfängt, an ihrem Verkauf mitzu­wirken.

Immer wieder hallt durch Porträt einer jungen Frau in Flammen als Leitmotiv die Frage: Warum blickte Orpheus zurück? Warum, als er Eurydike schon fast den Fängen des vermeint­lich Unent­rinn­baren entrissen hatte, musste er liebenden nach ihr schauen – und damit die ewige Trennung besiegeln?

Céline Sciamma (Tomboy) entspinnt aus dieser Konstel­la­tion ein atem­be­rau­bendes Gefecht der Blicke. Jede kleinste Regung der Augen, der Mimik, jede Geste ist darin aufge­laden mit Unaus­ge­spro­chenem, mit zurück­ge­hal­tener Emotion, mit Sehnsucht und Tragik. Glüht von innerem Brennen.

Und Noémie Merlant und Adèle Haenel verkör­pern das bis in die kleinste Faser, beseelen das milli­me­ter­genau mit Geist und Gefühl.

Selten genug, dass einem Filme begegnen, die in jedem Bild, in jedem Moment von einer solch immensen Intel­li­genz und Präzision sind wie Sciammas Meis­ter­werk.

Doch Porträt… hat dazu auch noch stets ein Gespür für das sinnliche Detail, für Körper­lich­keit.

Man spürt das Licht, die harschen Sonnen­strahlen, den wäre­menden Feuer­schein förmlich auf der Haut. Und wenn Héloïse und Mariannes Geschichte sich über die ideelle Zuneigung hinaus­wagt, dann hat das in einem einzigen Kuss mehr Erotik als etwa das ganze voyeu­ris­tisch-kombi­na­to­ri­sche Stel­lungs­spiel von Abdella­tife Kechiches La vie d’Adèle (Blau ist eine warme Farbe).

Porträt… ist, im histo­ri­schen Kostüm, ein gran­dioser Film über die weibliche Suche nach Freiräumen in einem männ­li­chen Macht­system, welches nicht sichtbar sein muss, um präsent zu sein.
Selbst in der Abge­schie­den­heit stößt man ständig an jene etablierten »Regeln, Gepflo­gen­heiten, Ideale«. Bleibt ein Verstoß eine gefähr­liche Sache.
Nur im Kleinen, Geheimen, Geschmug­gelten gibt es eine eigene Kunst der weib­li­chen Themen, Ästhetik. Ein Verfügen über den eigenen Körper. Und selbst da ist all das oft nur Reaktion auf das, was die Männer einem zuvor abver­langten.

Es gibt eine prekäre Soli­da­rität der Frauen unter­ein­ander in Porträt… Es eint sie allemal die spezi­fi­sche Erfahrung, ein gutes Stück weit gar über die ehernen Stan­des­grenzen hinweg. Doch alle sind sie, auf ihre Weise, auch Kompli­zinen des Systems und seines Erhalts. Wie Héloïses Mutter; wie Marianne, die das Verlo­bungs­por­trait malt. Wie die Alte, die heimlich Abtrei­bungen vornimmt – den Frauen einer­seits oft exis­ten­zi­elle Hilfe, ande­rer­seits den verhin­derten Vätern auch Rechen­schaft fürs rück­sichtslos gehabte Vergnügen ersparend.

Das unge­zü­gelte Rennen am Strand muss kein Akt der Freiheit sein: Das Dienst­mäd­chen (Luàna Bajrami), das sich mit ihrer Herrin Héloïse und Marianne anfreundet, versucht derart, ungewollt schwanger, eine Fehl­ge­burt herbei­zu­führen.

Selbst ein nächt­li­cher Zirkel, wo die Frauen der Insel unter sich sind, singt: »Non possum fugere«. (Und es mag Absicht sein, dass man dabei – obwohl es im Bild tut wie eine spontan sich aus dem Stimm­ge­wirr findende Melodie – sehr stark die strikte Hand eines Chor­lei­ters dahinter hört.)

Die Flucht, das Weglaufen ist unmöglich...

Unterschwelliges Knistern

Ein Rollen­wechsel zu Beginn des Films – die Künst­lerin steht selbst Modell, und vermit­telt ihren Schü­le­rinnen dabei die Grund­lagen der Porträt­ma­lerei. Eines ihrer früheren Bilder, mit dem sie unver­hofft konfron­tiert wird, wirkt wie ein Schlüssel zu wegge­sperrten Erin­ne­rungen.

Diese kurze Episode, in der das titel­ge­bende Gemälde etwas ungelenk einge­führt wird, dient als Klammer für die eigent­liche Handlung von Céline Sciammas vierten Film Porträt einer jungen Frau in Flammen. Marianne (Noémie Merlant) ist die besagte Künst­lerin, die im Jahre 1770 von Paris aus zu einer einwöchigen Mission aufbricht: sie soll die Adlige Héloise (Adèle Haenel) auf Wunsch von deren Mutter (Valeria Golino), mit der sie auf einer abge­le­genen Insel vor der Küste der Bretagne lebt, vor der geplanten Vermäh­lung portrai­tieren. Der Haken: Héloise ist gegen die arran­gierte Ehe und weigert sich daher, Modell zu sitzen, was andere Maler bereits zur Aufgabe gezwungen hat. Marianne gibt sich gegenüber Héloise auf Anraten der Mutter als Gesell­schaf­terin aus und beob­achtet sie bei langen gemein­samen Spazier­gängen, um sie aus der Erin­ne­rung zu malen. Dies erweist sich jedoch als schwie­riges Unter­fangen – Héloises besondere Persön­lich­keit lässt sich nicht so leicht einfangen, und auch die unbe­stimmte innere Haltung Mariannes erweist sich als Hindernis. Parallel dazu knistert es zwischen beiden Frauen langsam, aber heftig.

Céline Sciamma ist bereits 2007 mit ihrem Debüt Water Lilies aufgefallen, in dem auch schon Adèle Haenel, eine der interessantesten Schauspielerinnen Frankreichs, mitwirkt. Damals wie heute geht es um Liebe zwischen Frauen, im dezenten Widerstreit mit inneren wie äußeren Barrieren. Wo das Debüt aus unsteter Teenager-Perspektive erzählt, versetzt Porträt einer jungen Frau in Flammen das Thema in einen historischen Kontext, in dem homosexuelle Liebe generell und die Selbstbestimmung von Frauen sowieso verpönt ist. Sciamma verpackt dies als universelle Geschichte und gibt ihren Figuren dabei viel Zeit. Marianne und Héloise sind durch die Abwesenheit von Männern auf der Insel ungestört von chauvinistischen Blicken, die Regisseurin etabliert früh eine behutsame, fast zärtliche Sichtweise. Es ist faszinierend und ein Privileg, dies als Zuschauer beobachten zu dürfen – was nur konsequent ist, denn das Motiv des Sehens und die Kraft des Blickes spielen in diesem Film eine wichtige Rolle.

Visuell drückt sich dies in einer für Historienfilme ungewohnt unverfälschten Optik aus, die meisten Szenen sind von natürlichem Licht durchflutet, die Farben sind kühl und hart wie das Klima der Bretagne, ohne aufdringliche künstliche Nachbearbeitung. Szenen bei stimmungsvollem Kerzenschein oder am offenen Feuer sind spärlich und deswegen umso effektiver. Auch die Ausstattung ist karg, beispielsweise sind die Räume in dem Schlösschen, dass Héloise und ihre Mutter bewohnen, lediglich zweckmäßig eingerichtet, ein klischierter Kostümfilm-Pomp geht dem Film vollkommen ab. Dies bewirkt einen denkbar unverfälschten und unnostalgischen Blick, der seinerseits an der Grenze zur einer minimalistischen Stilisierung ist. Auch die Tonkulisse ordnet sich diesem Prinzip unter – einen klassischen Score gibt es nicht, es wird ausschließlich diegetische Musik verwendet. Sowohl Geräusche als auch die schnörkellosen Dialoge entwickeln mit dem Bild einen eigenen, fast schon melodischen Rhythmus.

Besonders beeindruckt, wie die Regisseurin mit Enge und Weite umgeht. Sie kontrastiert die unspektakulären Räumlichkeiten des Schlösschens immer wieder mit der tosenden Bretagneküste, die der zweite Hauptschauplatz ist. Dabei schafft sie es, Szenen am Meer stellenweise genauso beengend, genauso intim wie Innenszenen zu erzählen – ähnlich verhält es sich mit klaffenden Distanzen in abgeschlossenen Räumen. Die Schauspielerinnen transportieren die sich in diesem Zwieverhältnis entstehende Spannung kongenial, bis man das unterschwellige Knistern tatsächlich hören kann. Als sich Sciamma entscheidet, diese Spannung endlich aufzulösen, ist es keine Sekunde zu früh.

Frei von Kritik ist der Film allerdings nicht. Sciamma erzählt sehr eindeutig, also in erster Linie das, was man auf der Leinwand tatsächlich sieht, und weist nicht entscheidend darüber hinaus. Über weite Strecken agiert sie sehr geradlinig, fast schon durchsichtig in der Wahl ihrer gestalterischen Mittel. Über die Sinnhaftigkeit der erzählerischen Klammer lässt sich streiten, und stellenweise ist der Film in seiner Direktheit geradezu stumpf, etwa wenn er plumpe Symbolik bemüht (allem voran das Orpheus-Motiv, aber auch die sprechenden Namen und das Motiv der brennenden Frau sind beispielhaft zu nennen).

Wenn in der Schlusseinstellung ein ungeschnittenes Close-up und Vivaldis wallende Klänge (eine weitere schwergängige Metapher) in quasi-kunstvoller Allianz minutenlang miteinander verbunden werden, spürt man die Absicht und der Eindruck stellt sich ein, lediglich die Vorstufe, etwa die fortgeschrittene Skizze eines Meisterwerks gesehen zu haben. Dennoch handelt es sich bei Porträt einer jungen Frau in Flammen um einen bedeutenden Vertreter des diesjährigen europäischen Arthouse-Kinos, der die Regisseurin in diesem Kontext endgültig etabliert und auf ihre weiteren Werke neugierig macht.