Schweiz/D 2015 · 94 min. · FSK: ab 16 Regie: Julian M. Grünthal, Samuel Schwarz Drehbuch: Samuel Schwarz Kamera: Quinn Reimann Darsteller: Nina Fog, Christoph Bach, Pascal Roelofse, Philippe Graber, Samuel Schwarz u.a. |
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Seelenverunsicherung in der Schweiz |
»In der Abfalltechnik bezeichnet Polder eine Grube, in die Abfälle zur Ablagerung eingebracht werden, oder eine entsprechende Aufschüttung von Abfällen in einer Deponie. Die Parallele zum Polder im Wasserbau erklärt sich darin, dass auch eine Deponie in der Regel (oft unsichtbar) eingedeicht ist, um die Abflüsse von ihr sammeln und reinigen zu können.«– Wikipedia
»Die subjektiv erlebte Zeit ist viel länger, als die objektiv verbrachte. Das Spiel fungiert als Verlängerer des Lebens.« – So verkündet die Stimme eines Avatars in den ersten Sekunden. Gleich zu Beginn dieses Films fungiert die Leinwand als ein digitaler Computerscreen, der nur der Ausgangspunkt einer Reise in die Tiefen künstlicher Welten ist. Bildlich stellt sich das als eine idealisierte, archaische, von der Zivilisation weitgehend unberührte (Schweizer) Alpenlandschaft dar, in der sich Menschen – oder deren virtuelle Repräsentanten – in Zeitlupentempo bewegen und sprechen und sich vage an ihr früheres Leben im Analogen erinnern: »Es sieht genau so aus, wie ich es im Gedächtnis habe... Ich hab' etwas vergessen, ein Passwort.«
Es dauert ein wenig, bis sich aus dem Durch- und Übereinander der schrillbunten Bilder, dem Stimmengewirr und dem überbordend-barocken Gesamteindruck ein Plot herausschält: Der Computerspieledesigner Marcus (Christoph Bach) ist offenbar gestorben, seine Lebensgefährtin Ryuko (Nina Fog) forscht dessen Tod nach, und erhält von Marcus aus dem Totenreich versteckte Hinweise auf eine Verschwörung. Dann gerät Ryokos kleiner Sohn Walterli in den Sog des neuen, wie sich herausstellt hochgefährlichen Spiels. So muss denn auch Ryoko ins Spiel spielend eindringen, und sich dort mit Hexen, Rittern, Dämonen und Terroristen auseinandersetzen. »Denk nach, dann wirst du verstehen.« – dies wird zum Motto dieser Reise Ryukos,
Dantes »Inferno« und »Alice in Wonderland«, der Bergkitsch von Johanna Spyris märchenhaften »Heidi«-Geschichten und die Bilderwelten japanischer Mangas reichen sich die Hand in Polder – Tokyo Heidi. Der Film der Schweizer Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal geht auf das transmediale Projekt »Der Polder« mit Theater, Performance und Apps zurück, funktioniert aber auch linear und ganz für sich.
Die Aufhebung der Grenzen zwischen Realität und Phantasie, die Frage nach dem Wesen unserer Vorstellungen, Ängste und Träume, wie nach dem möglichen imaginären Charakter der vermeintlichen sinnlichen Gewißheit, begleitet das Kino seit seinen frühen Zeiten. Es verwundert nicht, das diese Fragen, die jeweils immer im Rahmen der technischen Innovationen gestellt werden, heute im Gewand des Computerspielefilms bzw. Virtual-Reality- oder Cyber-Thrillers auftreten. Diese sind Abwandlungen und Subgenres der Science-Fiction, und es liegt auf der Hand, Polder – Tokyo Heidi vor allem mit Filmen wie Strange Days, eXistenZ, Matrix und The Thirteenth Floor zu vergleichen, jenen Ende der 1990er Jahre besonders modischen Cyber-Thrillern, in denen die Verwischung der Grenze zwischen »künstlichen Computer-Welten« und der »Realität« im Zentrum stand, denen das Kino seitdem und allen technischen Innovationen zum Trotz wenig hinzuzufügen hatte.
Doch es führt eine gerade Linie von The Wizard of Oz über Vertigo und Blade Runner, von der Kraft des klassischen Hollywoods als Traumfabrik hin zu den »Alternate Reality Games« der Spiele-Industrie und deren Rekurs auf das Kino. Es passt sich längst nicht mehr nur den Bildwelten, sondern auch die Dramaturgien und Narrativen der Games an. Eines der besten, weil konsequentesten Beispiele ist hierfür die japanische »Gantz«-Mangareihe, die es bislang auf fünf Teile brachte, und der gegenüber alle Superhelden Amerikas doch wie Nachkommen fordistischer Arbeiter, also höchst antiquiert anmuten. Denen steht Polder – Tokyo Heidi so nahe wie Vertigo, in dem auch aus der Kraft der Liebe der Schein geboren wird, der gleichzeitig täuschend und befriedigend.
Mitnichten also wäre »Cyberthriller« oder Virtual Reality gleichzusetzen mit »unwirklich«, mit modisch, mit »nicht mehr Kino«. Im Gegenteil ist es den Machern um die Wirklichkeit und die materielle Macht des Imaginären zu tun.
Dass das Kino nur zu retten ist, indem man es überschreitet und in seiner jetzigen Form aufhebt, indem es weniger moralische Anstalt, Manifest-Maschine und Konsensfabrik ist, dafür mehr Varieté, Schule des Ästhetischen, Irritationsmaschine und Dissensfabrik, das ist die tiefere Wahrheit, die Polder – Tokyo Heidi entfaltet. Insofern ist dieser Film eine produktive Zumutung, die auf die Zukunft des Kinos verweist. Wir müssen nur wollen.
»Ein Polder ist eine Enklave verdichteter Wirklichkeit, die durch magische Grenzen von der umgebenden Welt getrennt ist.« – John Clute, The Encyclopedia of Fantasy
Mit dieser recht verschwurbelten Erklärung des Filmtitels beginnt Polder – Tokyo Heidi. Damit stimmen die Filmemacher Samuel Schwarz und Julian M. Grünthal ein auf ein filmisches Universum, in dem die banale Alltagsrealität unentwirrbar mit diversen virtuellen Fantasywelten verschmolzen ist. Es ist die Welt des globalen Konzerns Neuroo-X, angesiedelt in einer nahen Zukunft.
Neuroo-X widmet sich der Entwicklung von Games, welche die Grenze zwischen Alltagswirklichkeit und Spielwirklichkeit aufheben. Das neuste Game nennt sich das »Rote Buch« und setzt die geheimsten Sehnsüchte der Gamer in Form von extrem realitätsnahen Fantasy-Adventures um. Als der leitende Spieleentwickler Marcus (Christoph Bach) kurz vor der Fertigstellung des Roten Buchs stirbt, stellt seine Geliebte Ryuko (Nina Fog) Nachforschungen an. Sie findet heraus, dass bei der Testung des Spiels in China irgendetwas Furchtbares geschehen sein muss. Doch je länger ihre Untersuchungen andauern, desto mehr verliert sie den Bezug zur Realität.
Den Bezug zu gewöhnlicher Alltags- und sogar Filmrealität verliert auch der Zuschauer, nachdem Polder – Tokyo Heidi begonnen hat. Gleich die erste Szene zeigt ein Postkartenalpenidyll. Doch ragt im Hintergrund nicht der Eiger, sondern der Fuji auf. Im Mittelgrund springt ein weibliches Wesen über die Wiesen, das später als Ryuko vorgestellt wird. Sie wird gespielt von der Österreicherin Nina Fog, mit ihren dänisch-japanischen Wurzeln selbst eine perfekte Verkörperung des Zusammenmorphens von Europa und Asien. Im Film erscheint sie mal wie eine »echte« Japanerin und ein anders Mal wie eine Schweizerin, die eine Japanerin spielt.
Doch viel dominanter als das Bild ist eine plötzlich ertönende seltsame Roboterstimme, die sich als eine »Bewusstseinsentität« von Marcus vorstellt, welche Erinnerungsschnipsel des jüngst verstorbenen Spielentwicklers aufgezeichnet hat. Und als Nächstes folgen wir nicht Ryuko, sondern den Aufzeichnungen von Marcus' Bewusstsein hinein in dessen Kindheit: Wir sehen ihn als kleinen bebrillten Jungen zusammen mit zwei anderen Kindern, welche die Computerstimme als Marcus Cousin und Cousine vorstellt, vor einer kleinen Almhütte sitzen. Die Szene ist halb bewegt, halb eingefroren und wirkt seltsam irreal.
Ähnlich, wie ein Horror-Clown sollte diese unschuldige Kindheitserinnerung eigentlich komisch sein und doch geht viel eher eine undefinierbare Bedrohung von ihr aus. Dieses unter Neurologen als »kognitive Dissonanz« bekannte Phänomen ist das Grundprinzip des gesamten Films: Polder – Tokyo Heidi ist eine alberne und sinnfreie Komödie und zugleich eine bissige und bitterböse Satire auf unsere heutige Computerwelt. Die Filmfiguren wissen nie so genau, ob sie Menschen sind, die versuchen eine Spielerealität zu ergründen, oder ob sie nicht selbst Figuren in einem Spiel sind. Auch der Zuschauer weiß nie so recht, ob er gerade eine Komödie oder einen Horrorfilm anschaut.
In einem Moment ist Ryuko noch knallbunt, quietschvergnügt und übermütig und im nächsten Augenblick sticht sie sich mit einer gewaltigen Schere brutal ein Auge aus. Doch tut sie dies wirklich oder ist dies nur Teil eines Spiels? – Diese Frage ergibt zu diesem Zeitpunkt schon längst keinen Sinn mehr. Polder – Tokyo Heidi nimmt den Computerspiel-Cyberpunkt-Staffelstab von Filmen wie Nirvana (1997) und eXistenZ (1999) auf und zeigt auf zugleich vergnügliche und erschreckende Weise, dass man sich nicht einmal mehr in der scheinbar so idyllischen Schweiz sicher sein kann.