Deutschland 2015 · 88 min. · FSK: ab 12 Regie: Marcel Seehuber, Moritz Springer Drehbuch: Marcel Seehuber, Moritz Springer Kamera: Marcel Seehuber Schnitt: Frank Müller |
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Die Wunsch nach einem Grund zur Empörung |
Ein Auto ist im Weg. Kein Problem für die Helfer, die es umgehend umheben. Jetzt kann der Laster die frische Erde abladen. Und der Parko Navarinou weiterwachsen. Seit 2008, dem Jahr, mit dem sich alles veränderte, haben die Anwohner den einstigen Parkplatz Stück für Stück von Beton-Versiegelung befreit, mit Bäumen und Beeten versehen und so umgestaltet, das dieser kleine Park Stadtteil Exarchias im Norden Athens Menschen anzieht und zum Bleiben einlädt. Außer die Drogendealer, die sich getrollt haben im Zuge der eigenwilligen Umwidmung.
Dieser befreiende selbstbestimmte Akt einer Gruppe junger Athener eröffnet den Dokumentarfilm Projekt A. Doch es geht um mehr: Jene Menschen, krisengeschüttelt und vom System im Stich gelassen, erobern sich und anderen ein Stück Leben zurück, das ihnen vom System weggenommen wurde.
»Ich wünsche allen, jedem einzelnen von Euch, einen Grund zur Empörung. (…) Den ‘Ohne-Mich‘-Typen ist eines der konstitutiven Merkmale des Menschen
abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.« Armut, ungerechte Güterverteilung, der Umgang mit Flüchtlingen, Atommüll – Es gibt noch mehr Gründe zur Empörung, seit sie Stéphane Hessel, der in Berlin geborene Résistance-Kämpfer, KZ-Überlebende und Mit-Urheber der allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen in seiner Streitschrift „Empört Euch“ 2010 artikulierte. Denn während Europa über die vergangenen Jahre von
einer Identitätskrise in die nächste schliddert, darin steckenbleibt und gerade jetzt seinen Tiefpunkt als Wertegemeinschaft offenbart, bleiben Parlamente und Institutionen ihren Bürgern so viele Antworten schuldig wie noch nie zuvor. Deshalb packen viele eigenmächtig an, schaffen Möglichkeiten, ohne auf „ihren“ Staat zu warten, weisen in Demos oder Online-Kampagnen auf Missstände hin. Doch es gibt Menschen, die noch weitergehen und ihr Leben unabhängig von
staatlichen Institutionen (wieder) nach radikal humanistischen Prinzipien selbst gestalten wollen.
Solche Anarchisten und ihre Unternehmungen stellen Marcel Seehuber und Moritz Springer in ihrem Porträt vor. Sie knüpfen damit an Dokumentarfilme wie I Want to See the Manager des Südtirolers Hannes Lang an. Der packte die Sackgassen kapitalistischer Ordnung, ihren Aufstieg und Bankrott, deren Verläufe weltweit vergleichbar sind, in eindrucksvolle Bilder. Die einzig positive Perspektive behält Lang am Ende der nicht schönen, aber irgendwie hoffnungsvollen Parallelwelt des Torre de David vor, einem unfertigen Wolkenkratzer in Carácas, der seit bald schon ein Jahrzehnt besetzt und immer noch von mehr als 1000 Menschen in einer ganz eigenen Art demokratischer Gemeinschaft weiter bewohnt wird.
Beispiele friedfertiger Alternativmodelle zum Wachstum, die noch mehr Potenzial haben dürften als der „Torre de David“, stehen eben auch in Europa: Als von Freiwilligen betriebenes Gesundheitszentrum in Athen, als vielseitiges überregionales Netzwerk in Katalonien, als Lebensmittelgenossenschaft in München oder als Einzelkämpferin, die sich an Gleise kettet, um Atommüll-Transportzüge zu stoppen. Mit ihrem kurzweiligen Porträt-Potpourri supranationaler Anarchie und deren Geschichte ist Seehofer und Springer zweifelsohne eine fruchtige, inspirierende Arbeit gelungen, die zeigt, dass es sich lohnt, als Einzelner auch am kleinen Rad zu drehen, damit das große davon erfasst werden kann.
»Ich würde nicht wissen wollen, wie die Welt aussehen würde, ohne die Leute, die einst gekämpft haben«, sagt jene Öko-Aktivistin Hanna. Gut möglich, dass sie ein gutes Jahrhundert zuvor mit dieser Haltung Suffragette gewesen wäre, ihr Leben auf Spiel gesetzt hätte für eine Sache, deren Ideale – Gerechtigkeit, Teilhabe und emanzipierte Mitbestimmung – in der politischen Routine von heute fast bis zur Unkenntlichkeit ins Hintertreffen geraten sind. Bei derartigen Statements wie dem zitierten fliegt kein Zeigefinger, sondern eine Faust aus der Leinwand – unabhängig davon, ob man ihre Ansichten im Einzelnen uneingeschränkt teilt.
Projekt A macht Lust auf die eigene private Revolution, die ersten Schritte, die sich Mitstreitern zuwenden. Dabei zeigen Seehofer und Springer unverhohlen, dass sie passionierte Bewunderern ihrer Protagonisten sind. Objektives Beobachten, die Stellvertreter-Position des Nichtwissenden ist nicht ihr Ding. Das schadet dem Film zwar nicht, blendet aber leider manch interessante Frage aus: Wie reagieren Außenstehende auf die Projekte, wie verlaufen Diskussionen und Konfrontationen mit (noch) anders Denkenden? Beteiligen sich die Protagonisten überhaupt noch an demokratischen Prozessen? Interessant wäre es allemal gewesen zu ergründen, wie weit die Abgrenzung von staatlichen Institutionen im Einzelfall geht oder gehen kann.
Der Blick der beiden Filmemacher ist zwar radikal, ihr Visier aber dann doch ein Stück weit aufgeklappt: Wenn sie das Münchner Kartoffelkombinat als anarchischer erkennen, als es die Genossenschaft selbst für sich in Anspruch nehmen will, öffnet eine solche Sichtweise den Begriff der Anarchie auch für Mitglieder der Gesellschaft, die in ihm bislang wohl eher keine Identifikationsmöglichkeiten sahen. Auch mit „Säen, ernten, bauen und organisieren“ lässt sich kaputt machen, was kaputt macht.