USA 2013 · 154 min. · FSK: ab 16 Regie: Denis Villeneuve Drehbuch: Aaron Guzikowski Kamera: Roger Deakins Darsteller: Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Maria Bello, Terrence Howard, Melissa Leo u.a. |
![]() |
|
Präzise Beobachtungen |
Die Entführung zweier Mädchen, ein dringend tatverdächtiger Mann, der aufgrund mangelnder Beweise freigelassen werden muss, ein Wut entbrannter Vater und ein frustrierter Cop, dem der Fall über den Kopf zu wachsen droht – die Ingredienzien des Entführungsthrillers Prisoners wirken vertraut und deuten auf standardisierte Genre-Kost hin, wie sie Hollywood Monat für Monat auf den Markt wirft, um den schnellen Hunger des spannungsinteressierten Publikums zu stillen. Eine Vermutung, die allerdings recht schnell revidiert werden muss, denn hinter der Kamera hält mit dem Kanadier Denis Villeneuve ein Mann die Fäden in der Hand, der sich bislang nicht gerade als stromlinienförmiger Filmemacher hervorgetan hat. Das gilt auch für das erzählerisch eigenwillige Drama Die Frau, die singt, das 2011 für den Auslands-Oscar nominiert wurde und den Namen des Regisseurs in amerikanischen Filmkreisen bekannt machte.
Zwei Jahre später folgt nun sein stargespicktes US-Debüt, mit dem Villeneuve unter Beweis stellt, dass eine Vereinnahmung Hollywoods nicht zwangsläufig mit einem umfassenden Verlust kreativer Visionen einhergehen muss. Obschon die Prämisse des Films eine Variation von Michael Winners 70er-Jahre-Reißer Ein Mann sieht rot vermuten lässt, gelingt es dem kanadischen Regisseur und seinem Drehbuchautor Aaron Guzikowski, den kompromisslosen Selbstjustizstrang der Geschichte differenziert auszuleuchten. Wie bei so vielen verzweifelten Kino-Vätern fällt auch Keller Dovers (Hugh Jackman) Antwort auf die vorläufige Freilassung des vermeintlichen Entführers seiner Tochter männlich-archaisch aus. Getrieben von Sorge und unbändiger Wut, nimmt er den geistig zurückgebliebenen jungen Mann gefangen, um ihm ein Geständnis abzupressen.
Was mit wilden, zumeist in den Off-Bereich verlegten Schlägen beginnt, wächst sich schließlich zu einer Folterstrategie aus, die dem mutmaßlichen Täter jegliche Menschenwürde raubt. Eingepfercht in einen eilig konstruierten Bretterverschlag, der mit einer Warm- und Kaltwasserleitung ausgestattet ist, sieht sich der Gefangene den Übergriffen des rasenden Vaters hilflos ausgesetzt. Handfeste Zweifel am fragwürdigen Vorgehen des Protagonisten werden mehrfach eingestreut, jedoch nie einfach und bequem für den Zuschauer ausbuchstabiert. So fungiert der Vater des zweiten entführten Mädchens zwar als Korrektiv, indem er vehement auf die Unrechtmäßigkeit von Dovers Vorgehen hinweist, lässt sich zunächst aber als Handlanger instrumentalisieren, bis er schließlich unter der Last seines Handelns zusammenbricht und sich seiner Ehefrau offenbart. Diese wiederum kann den Anblick des von den Schlägen entstellten vermeintlichen Täters nur schwer ertragen und will ihm selbst keinen Schaden zufügen, weigert sich jedoch zugleich, dem befreundeten Dover Einhalt zu gebieten. Wegschauen und schweigen lautet ihre Devise, die die moralisch hochgradig ambivalente Gemengelage zusätzlich anheizt.
Auch wenn man einem Thriller aus der Hollywood-Schmiede nicht zu viele politische Ambitionen unterstellen sollte, erscheinen die Folterbezüge in Prisoners fast wie ein intendierter Kommentar auf das unrühmliche Verhalten der USA im Kampf gegen den Terrorismus. Der als gottesfürchtig eingeführte, dann aber zum selbstgerechten Berserker mutierende Keller Dover spiegelt in gewisser Weise den blinden Aktionismus der Amerikaner, die ihr christlich-demokratisches Selbstverständnis in den letzten Jahren zunehmend unterhöhlt haben. So, wie in Guantanamo, weit weg vom amerikanischen Alltagsleben, vermeintliche Terroristen inhaftiert und mit fragwürdigen Mitteln zu einem Geständnis gebracht werden sollen, lässt auch der verzweifelte Vater rechtsstaatliche Grundsätze hinter sich, um eine eigene, keineswegs auf gesicherten Erkenntnissen beruhende Agenda zu verfolgen.
Jenseits dieser politischen Anspielungen fasziniert Villeneuves US-Debüt auch aufgrund seiner zweiten, gleichberechtigten Erzählebene, die von Detective Loki (eindringlich: Jake Gyllenhaal), dem im Entführungsfall ermittelnden Polizeibeamten, bestimmt wird und sich im Verlauf des Films zu einem spannenden Psychogramm entwickelt. Obwohl recht früh ersichtlich ist, dass Loki seinen Provinzjob liebend gerne gegen höhere Aufgaben eintauschen würde, beißt er sich in das mysteriöse Verschwinden der kleinen Mädchen fest. Anfangs noch sicher, den Verdächtigen im Handumdrehen überführen zu können, wird sein Ehrgeiz gepackt, als er den jungen Mann laufen lassen muss. Akribisch verfolgt der einzelgängerische Detective mögliche Spuren und kreuzt wiederholt den Weg Keller Dovers, dessen Verhalten ihn zunehmend misstrauisch stimmt. Je länger die Suche nach den Entführten andauert, umso mehr droht auch Loki seine Beherrschung zu verlieren.
Wenngleich Prisoners unverhohlen auf den umfangreichen Fundus an konventionellen Krimi- und Thriller-Versatzstücken zurückgreift – falsche Fährten sind ebenso zu finden wie Verfolgungsjagden und geschickt gesetzte Schockmomente –, trägt der Film zugleich Züge eines kammerspielartigen Dramas. Immerhin verwendet der Regisseur viel Zeit auf die präzise Beobachtung der Hauptfiguren, weshalb die von Roger Deakins geführte Kamera dem Geschehen zumeist aus einem nahen, eingeengten Blickwinkel folgt. Die durch ständigen Regen getrübte Sicht auf die Welt spiegelt die Undurchschaubarkeit des Entführungsfalls, dessen grausame Tragweite erst im letzten Akt aufgelöst wird. Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg. Auch buchstäblich: Schließlich wartet Prisoners mit einer für einen Psychothriller eher unüblichen Länge auf. Dass man jedoch nie das Interesse an den Ereignissen auf der Leinwand verliert, liegt nicht zuletzt an Villeneuves dichter und wirkungsvoller Inszenierung, die dem bedeutungsvollen Titel des Films eine weitere Dimension verleiht. Denn wie so viele auftretende Figuren – ob Keller Dover, Detective Loki, die entführten Mädchen oder der vermeintliche Täter – ist letztlich auch der Zuschauer ein Gefangener. Wenigstens für 153 spannungsgeladene, gleichzeitig herausfordernde Minuten.