Werner Herzog – Radical Dreamer

Deutschland 2022 · 103 min. · FSK: ab 12
Regie: Thomas von Steinaecker
Drehbuch:
Kamera: Henning Brümmer
Schnitt: Volker Schaner
Filmszene »Werner Herzog - Radical Dreamer«
Rast in Sachrang: Werner Herzog
(Foto: Realfiction)

Ekstatische Wahrheit

Thomas von Steinaecker hat Werner Herzog mit Radical Dreamer ein filmisches Denkmal gesetzt, lässt ihn aber auch sehr nahbar und geerdet wirken

Er ist ein Ausnah­me­re­gis­seur, getrieben von einer filmi­schen Vision und einzig­artig in seiner radikalen und doch zärt­li­chen Sicht­weise auf die Welt. Werner Herzog feierte am 5. September seinen acht­zigsten Geburtstag, und der Augs­burger Schrift­steller, Hörspiel­autor und Filme­ma­cher Thomas von Steinaecker hat nun zum Jahrestag ein doku­men­ta­ri­sches Porträt über ihn geschaffen: Werner Herzog – Radical Dreamer. Es ist der erste Kino­do­ku­men­tar­film überhaupt, der sich dem Menschen Herzog annähert, und es darf als Sensation gelten, dass Herzog ihm dies anver­traute, anstatt die Aufgabe wie in dem halb­stün­digen Kurz­por­trait Werner Herzog: Filme­ma­cher (1986) selbst zu über­nehmen. Von Steinaecker nahm zu Herzog Kontakt über dessen jüngeren Halb­bruder Lucki Stipetić auf, der seit Aguirre, der Zorn Gottes (1972) nahezu alle seine Filme produ­ziert hat und auch heute noch als brüder­li­cher Wahrer und Vermittler seines Werks fungiert. Bald wurde dank seiner Kontakte aus der ursprüng­lich geplanten Fernseh-Doku ein Doku­men­tar­film für die Kinos. Das wird auch dem Format des großen Werner Herzog gerecht, obwohl dieser in den letzten Jahren viele Filme nur bei Netflix heraus­bringen konnte.

Werner Herzog genießt heute, nach über 70 Film­ti­teln, darunter 18 Doku­mentar- und 20 Spiel­filme und die acht­tei­lige Todes­trakt-Serie »On Death Row«, Weltruhm und kultische Verehrung. Mit dem Filme­ma­chen begann er als Auto­di­dakt zur Zeit des Aufbruchs des Neuen deutschen Films in den 1960er Jahren. »Ich war auf der Suche nach neuen Bildern, die im Kino noch nie gesehen wurden«, erzählt Werner Herzog im Gespräch, das von Steinaecker mit ihm im baye­ri­schen Sachrang geführt hat. Hier in den Bergen verbrachte Herzog seine Kindheit, nachdem die Familie in München ausge­bombt wurde. Das Gespräch zeigt den monu­men­talen Regisseur uner­wartet offen und nahbar.

Thomas von Steinaeckers filmi­sches Portrait unter­scheidet sich damit wesent­lich von der Selbst­dar­stel­lung des Regie-Groß­meis­ters. Werner Herzog tritt in seinen kürzlich erschie­nenen und zum Best­seller avan­cierten »Erin­ne­rungen« (»Jeder für sich und Gott gegen alle«) als listen­rei­cher Tausend­sassa auf, dem es entgegen aller Wahr­schein­lich­keit stets im letzten Moment doch noch gelingt, den Ausweg aus einer verfah­renen Situation zu finden. Werner Herzog ist, so ist zwischen den Zeilen zu lesen, ein toller Hecht – dies aber in aller Beschei­den­heit. Von den waghal­sigen Aben­teuern des Filme­ma­chers ist in Radical Dreamer zum Glück nur am Rande die Rede.

Seine teils visionäre Arbeits­weise inter­es­siert von Steinaecker mehr. Herzogs Credo war, keine verbrauchten Bilder zu machen und keine schalen Kompro­misse einzu­gehen. Das brachte ihn zu bahn­bre­chenden Insze­nie­rungen wie in Fitz­car­raldo (1982), als Herzog ein fast 200 Tonnen schweres Holz­schiff über einen Berg im perua­ni­schen Dschungel ziehen ließ. Dabei verwen­dete er eine Technik, wie man sie schon im 16. Jahr­hun­dert benutzte, erinnert sich Kame­ra­mann Thomas Mauch, den von Steinaecker ebenfalls getroffen hat. Er hatte schon bei Herzogs erstem Film die Kamera geführt und avan­cierte zu einem der wich­tigsten Kame­ramänner des Neuen deutschen Films. Sein Kollege Peter Zeit­linger, der seit Little Dieter Needs to Fly (1997) mit Herzog dreht, kommt im Film ebenfalls zu Wort. Oder Henning von Gierke, der Fitz­car­raldo ausstat­tete, aber eigent­lich Maler ist. Wim Wenders und Volker Schlön­dorff (den Herzog in seinen Memoiren seinen einzigen Freund des deutschen Kinos nennt) erinnern sich an die Aufbruchs­ge­nera­tion des deutschen Films: »Wir hatten unter­schied­liche Stile, aber alle lebten in München.« Legendär sind Herzogs Invek­tiven gegen die Film­för­de­rung und Film­hoch­schulen, die von Steinaecker in den Archiven gefunden hat. Mit Nicole Kidman, mit der er 2015 Königin der Wüste drehte, und Christian Bale, mit dem er 2006 in Rescue Dawn zusam­men­ar­bei­tete, treten in von Steinaeckers Film auch Prot­ago­nisten aus Herzogs US-ameri­ka­ni­schen Spiel­filmen auf, außerdem Chloé Zhao. Die chine­sisch-ameri­ka­ni­sche Regis­seurin und spätere Oscar­ge­win­nerin wurde 2017 für The Rider mit dem Werner-Herzog-Preis ausge­zeichnet. Herzog muss eine Seelen­ver­wandt­schaft erkannt haben, die die Grenze zwischen dem Doku­men­ta­ri­schen und der Fiktion durch­lässig hält und auch komplett dem Realen enthobene Welten insze­niert. »Für mich gibt es die Grenze zwischen Fiktion und Doku­men­tar­film nicht, es sind alles nur Filme«, sagt Herzog in seiner ihm eigenen Tief­grün­dig­keit.

Mitte der 1990er Jahre verließ Herzog Deutsch­land, um sich in Amerika neu zu erfinden. Anlass gab Lektionen in Fins­ternis (1992), ein Film über den Ersten Golfkrieg. Die Leute hätten ihn nach der Premiere beschimpft und sogar ange­spuckt, erzählt er. Ihm wurde vorge­worfen, den Horror ästhe­ti­siert zu haben, er aber empfand die Empörung ein »Verbre­chen gegen das Herz der Kreation«. Der Bruch mit Deutsch­land war da.

In den USA insze­nierte Herzog dann Grizzly Man (2005), mit dem er zum Star­re­gis­seur eines tabufreien Doku­men­tar­films wurde, der Fiktio­na­li­sie­rungen als »eksta­ti­sche Wahrheit« labelte. Herzog sieht sich aber vor allem als »guter Soldat im Dienste des Kinos«. Ob er auch ein »Radical Dreamer« ist, wie Thomas von Steinaecker seinen Film genannt hat? Herzog habe dies verneint, erzählt von Steinaecker im Gespräch. Den Traum und das Träumen kann man aber in vielen seiner Filme finden, in Wo die grünen Ameisen träumen (1984), Die Höhle der verges­senen Träume (2010) und Wovon träumt das Internet? (2016) sogar im Filmtitel. Herzog aber besteht darauf, überhaupt nicht zu träumen, zumindest nicht nachts. »Ich kann nicht träumen, da ist eine Leere.« Leben­sträume aber haben ihn immer begleitet.

Rührung kommt auf, als sie zu einem Wasser­fall kommen, an dem er als Kind mit seinem Bruder spielte, Herzog hat Tränen in den Augen. »Das ist die Land­schaft meiner Seele«, sagt er. Von Steinaecker lässt uns in seine Seele blicken.

Herzog zum Lesen: