USA/GB 2011 · 100 min. · FSK: ab 12 Regie: Catherine Hardwicke Drehbuch: David Leslie Johnson Kamera: Mandy Walker Darsteller: Amanda Seyfried, Gary Oldman, Billy Burke, Shiloh Fernandez, Max Irons, Virginia Madsen u.a. |
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Ein durch und durch postmodernes Rotköppchen |
»Großmutter, warum hast Du so große Zähne?« – Das war einmal, das fragt hier niemand mehr, und dass dies so ist, liegt nicht allein daran, dass die Großmutter in diesem Film von keiner anderen gespielt wird als von Julie Christie. Denn Red Riding Hood ist keine Verfilmung der guten alten schön-schaurigen Rotkäppchengeschichte der Gebrüder Grimm, sondern ein poppiger Hybrid diverser Märchenmotive mit Elementen des romantischen Teenieschmalzes wie des Horror – in diesem Fall des Werwolffilms – wie gemacht also für junge Menschen, die sich gruseln und gleichzeitig aneinanderkuscheln wollen, und genau wie dieser Film und seine Figuren nicht so ganz sicher wissen, wer und was sie eigentlich sind.
Aber schon bei den Grimms konnten Wölfe sprechen, und so ist der Schritt vom klassischen Bildungsgut und Kindervorlesestoff zum fiesen Horrorsplatter mit tieferer Bedeutung vielleicht doch weniger weit, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Mit einem langen Flug von Molly Walkers Kamera über eine weite, prächtige Winter-Landschaft beginnt alles, ein Schneewittchenschloss ist zu sehen, ein Mühle klappert am rauschenden Bach, dann dringt man ein in die Schwärze eines Märchenwaldes – und ins Unterholz des eigenen Bewusstseins und der Erinnerung an Kindheitsmärchen. Ein kleines Dorf am Rande des Waldes ist der Schauplatz: eine enge Welt, eine bornierte Dorfgemeinschaft, Schweine werden geopfert, alles ist spürbar zu begrenzt für aufgeweckte Jugendliche wie Valerie und Peter. Wie Hänsel und Gretel spielen die beiden Kinder im Wald, ahnungslos gegenüber dessen Gefahren, brechen die Regeln der Erwachsenen.
Zum Beispiel fangen sie einmal ein kleines weißes Kaninchen, und wer einmal Angela Carters Märchen für Erwachsene gelesen hat, die unter dem Titel »The Bloody Chamber« erschienen sind, erinnert sich bestimmt an die drei dort enthaltenen Rotkäppchen-Geschichten, deren eine, phantastischste, den Titel »Wolfs-Alice« trägt – ohne Frage gehört auch Carter zu den Inspirationsquellen für Catherine Hardwicks sehr eigenwillige Verfilmung, wie unverkennbar auch Neil Jordans In The Company of Wolves, die ganz direkt auf Carters Geschichten basierte.
Die Handlung des Films kommt auch, nachdem sie aus der Kindheit in eine »zehn Jahre später« angesiedelte Zeit gesprungen ist, etwas mühsam in Gang. Zwar passiert ziemlich viel, doch kann man sich zunächst wenig zusammenreimen: eine Glocke bimmelt alarmierend, »Der Wolf!« rufen Stimmen erregt, und bald ist klar, das eine Wolfsbestie das Dorf regelmäßig heimsucht. Jetzt hat sie wieder zugeschlagen, und ausgerechnet Valeries Schwester Lucie ist sein Opfer geworden. So ist der Film ganz schnell aus dem Märchenhaften heraus – und in die Welt der Menschen hineingetreten, letztlich vor allem in die eines tragisch grundierten Familienromans: Valerie muss nämlich nun Lucies Bräutigam Henry heiraten, und auf ihren geliebten Peter verzichten. Von ihrer Mutter erfährt sie, als ob das nicht genug für einen Tag wäre, auch noch, dass diese ebenfalls dereinst zur Zwangsheirat gezwungen wurde, dass Lucy in Wahrheit nicht Vaters Tochter, sondern Henrys Halbschwester war, und wie sie ahnen auch die Zuschauer, dass weitere Geheimnisse ans Licht kommen werden. Dafür sorgt schon Father Salomon, ein Priester mit Zorn und Schwert und ein erfahrener Wolfsjäger, den Gary Oldman mit allem Charme eines Großinquisitors ausstattet. Eigentlich soll er den bösen Wolf ein für alle Mal zur Strecke bringen. Doch im Dienste dieser Sache installiert er zunächst vor allem ein rigoroses, religiös gefärbtes Puritanerregime: »Eure Wohnungen werden durchsucht werden, eure Geheimnisse ans Licht gebracht.« So wird aus dieser Geschichte über Sex, Lügen und Wölfe auch ein Märchen über amerikanische Paranoia und Antiterrorkämpfe. Und auch der Werwolf kommt rechtzeitig zurück – und spricht, wie erwartet.
»A man bitten is a man cursed«, sagt Father Salomon, der im Dorf Einzug hält, und dessen Bewohner über zweierlei aufklärt: Der Wolf ist ein Werwolf, und zur Zeit steht am Himmel der »Blutmond«, wie nur alle 13 Jahre. Während dieser mehrere Tage dauernden Phase werden alle die vom Wolf gebissen werden, sich in Werwölfe verwandeln.
Hardwick (Twilight) erzählt das von Anfang an in der offenen Künstlichkeit des klassischen Hollywood-Studio-Kinos – dies ist ein Märchen, und will gar nichts anderes sein. Als solches funktioniert der Film recht gut: Ein schön anzusehendes, kurzweiliges postmodernes Patchwork. Gewollt naiv ist dieser Teenie-Movie andererseits auch das Gegenteil von Selbstreflexion und fraglos
hätte man von Catherine Hardwick vielleicht noch einen etwas besseren, geistreicheren Film erwartet, etwas mehr Tiefsinn gewünscht. Stattdessen surft sie lieber auf der Referenzen-Welle.
Wie in der Psychoanalyse verraten Träume die Wahrheit. Rotkäppchen läuft mit ihren blonden Haaren und einem roten Cape immer wieder durch den Schnee – Rot wie Blut, Weiß wie Schnee –, das alles ist dann natürlich auch ein Symbol für Menstruationsblut, für verlorene
Jungfräulichkeit, fürs sexuelle Erwachen und Erwachsenwerden eines Kindes, um den Wolf als erotische Projektion und lockende Gefahr
Und so begegnet man auch Grimms »Wolf und die sieben Geißlein« ebenso wie dem Ödipus-Komplex: Denn dieser Werwolf ist auch der nächste Verwandte des Menschen – »You understand me. Thats all what matters«, »I am coming back for you until the blood moon rise« –, und diese Verwandtschaft wird hier ebenso betont, wie das Tierische des Wolfes: Er riecht, schnüffelt, er versteht die Sprache des Blutes und seine Verwandten verstehen ihn. Ist das vielleicht der irgendwie andere, womöglich weibliche Zugang zum Thema, von dem zuvor nichts zu erkennen war? Man ahnt schon: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann interpretieren sie noch heute.