USA 2021 · 131 min. · FSK: ab 16 Regie: Sean Baker Drehbuch: Sean Baker, Chris Bergoch Kamera: Drew Daniels Darsteller: Simon Rex, Bree Elrod, Suzanna Son, Brenda Deiss, Judy Hill u.a. |
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Leben und Liebe aus zweiter Hand | ||
(Foto: Universal) |
»Wenn die Leute beim Betrachten meiner Bilder gleichzeitig weinen und lachen, dann ist das genau die Reaktion, die die Bilder auch bei mir hervorrufen. Die Dinge sind weder grundsätzlich gut noch schlecht. Ich bin immer daran interessiert, beide Extreme darzustellen.« – Martin Parr
Seit Sean Bakers erstem Spielfilm, in dem er so lose wie akribisch das Leben und soziale Umfeld von Sexarbeiter:innen in den USA porträtierte, sind inzwischen zehn Jahre vergangen. Und ruft man sich Starlet (2012), Tangerine (2015) und The Florida Project (2017) in Erinnerung und vergleicht ihn mit seinem neuesten Film Red Rocket, dann sieht man nicht nur Bakers in immer wieder neue Facetten aufgebrochenes Kreisen um ein sozial vernachlässigtes Amerika, das sich nur mehr mit seinem Körper den Forderungen des amerikanischen Kapitalismus stellen kann, sondern man sieht auch einem Filmemacher beim Reifen zu einer immer komplexeren Persönlichkeit zu.
Denn Red Rocket ist mit Abstand Bakers interessantester, komischster und zugleich traurigster Film. Denn hat er es in Starlet noch bei einem fast schon zärtlichen, empathischen Ethnografieren belassen, bezieht Baker in Red Rocket, der letztes Jahr in Cannes seine Premiere feierte, auch künstlerisch und politisch deutlich Stellung.
Baker lässt seine Geschichte über den abgehalfterten Pornostar Mikey Saber (Simon Rex) während des Präsidentschaftswahlkampfes in den USA 2016 spielen. Zwar wird eine Rede Trumps nur einmal kurz eingeblendet, in der wir all den Wahnsinn, die Angeberei und Egomanie von Trump erkennen, doch dieser kurze Moment reicht aus, um die Überleitung zu Bakers (Anti-)Helden Mikey zu ermöglichen, der so wie Trump Amerika erobern wird, seine alte Heimatstadt in Texas zurückerobert, nachdem er von der Pornoindustrie in Los Angeles ausgemustert wurde. So wie Trump gelingt es auch Mikey mit Lügen und Angeberei wieder Fuß zu fassen. Er nistet sich bei seiner Ex-Frau Lexi (Bree Elizabeth Elrod) und ihrer Mutter Lonnie (Ethan Darbone) ein, beginnt über alte Schulfreunde Drogen zu verkaufen, geht Freundschaften so strategisch wie schonungslos ein, nicht zuletzt zu der minderjährigen Strawberry (Suzanna Son), eine Verkäuferin in einem Donut-Laden, um über sie wieder Fuß in der Pornoindustrie fassen zu können.
Baker folgt dieser gebrochenen Persönlichkeit, die keinen mehr hat außer sich selbst und seinen Schwanz, mit einer akribischen, gnadenlosen, aber auch zärtlichen Kamera, der Kamera von Drew Daniels, die bereits in Trey Edward Shults Waves die Abgründe der Protagonisten zu einem zwielichtigen Leuchten brachte.
Weil er kein Auto hat, muss Mikey mit einem Kinderrad umherfahren, was den Kontrast zu seinen Ambitionen nicht größer machen könnte, das irre Kind in einem verwirrten Mann andeutet, doch Mikey gelingt es eigentlich immer, diesen Kontrast vor anderen mit Lügen und Angebereien so kleinzureden, dass einem vor lauter Fremdschämen immer wieder die Sinne vergehen wollen. Die hier unfreiwillig in Szene gesetzte Komik hat allerdings nichts von der Leichtigkeit der legendären Serie Hung, in der ein auf den Hund gekommener Lehrer in Detroit sich als Prostituierter verdingen muss, nein, Bakers Komik ist eher eine Groteske, die nur deshalb erträglich wird, weil Baker hier ein gesellschaftliches Szenario entwickelt, dass das Amerika zeigt, das letztendlich Trump erst ermöglicht hat und auch nach der Abwahl von Trump noch stark genug ist, Amerikas Demokratie weiterhin zu erodieren.
Es ist die nackte Not, der wir hier zusehen, einer Pornoisierung des Alltags, einem Leben aus zweiter Hand, das jeder so gut es denn geht, zu überleben versucht. Selbst privater Sex läuft nur mit einer Viagra und die Stellungen, die hier exerziert werden, haben nichts Persönliches, sind ausgestellter, plakativer Sex, wie ihn jeder schon einmal in den üblichen Pornostreifen gesehen hat. Drogen sind so selbstverständlich wie die entfremdenden Arbeiten, die jeder mal mehr oder weniger ableistet, um gerade so zu überleben.
Was diesen Alltag dann aber so sehenswert und dann auch fast schon wieder zu einem Sehnsuchtsort macht, einem Ort, den die Beteiligten deshalb vielleicht auch nicht verlassen, zeigen Baker und Daniels im atemberaubenden 16-mm-Format, das mal wie große Fotografie, dann wieder wie eindrücklichste Malerei flimmert. Denn wie Baker die Szenen, die kleinen Geschichten filmt, erinnert zuerst an die Alltagsfotografieren von Martin Parr, an dessen Bilder von alltäglichen Klischees, geschmacklichen Entgleisungen und Hässlichkeiten, die aber mit derartigen bonbonbunter Eindringlichkeit abgelichtet sind, dass das dargestellte Prekariat zu einem Werbeplakat seiner selbst wird, und die ganze Ambivalenz unseres Daseins nicht klarer zum Vorschein kommen könnte.
Und dann ist da natürlich Edward Hopper und seine Gemälde amerikanischer Einsamkeit, die auch Baker kongenial auferstehen lässt. Seien es die einsamen Runden von Mikey auf seinem Kinderfahrrad oder wie er allein vor dem Donut-Laden steht und versucht ins Innere zu blicken, sein Fahrrad neben ihm, oder sein Antrag an Strawberry, mit ihr nach L.A. zu gehen, vor einem röhrenden Frachtzug und dann im Auto vor den Abfackelanlagen der texanischen Ölindustrie, und Strawberrys ehrliche Freude darüber, mit ihm Pornos in L.A. drehen zu können: »You make me so happy, Mikey«. Das könnte alles auch Hopper sein.
Das ist so traurig und schön, so entsetzlich hoffnungslos, und von Simon Rex – der hier auch fragmentarisch sein eigenes Leben zwischen Porno-L.A. und Hollywood-L.A. darstellt – so markerschütternd überzeugend gespielt, dass Hopper und Parr nicht ausreichen und man auch noch die von Baker zitierten Vorbilder für seinen Film, die italienischen Eurocrime-Filme und Spielbergs Sugarland Express hinzuziehen muss, um Bakers Anliegen und künstlerischem und erzählerischem Entwurf ganz gerecht zu werden.
Und seinem so subtilen wie wuchtigen gesellschaftspolitischen Anliegen, das eine Realität aufzeigt, die nicht mehr zu widerrufen, nicht mehr zu ändern ist, sondern die erst dann vorbei ist, wenn sie sich selbst zerstört hat.