Li Ruijun schickt seine Figuren in die Wüste. Auf einer Düne sitzen sie: Mann und Frau oben im Bild, darunter der leuchtende Sand, von Verwehungen und feinen Spuren durchzogen. Schon früh im Film handelt es sich dabei um eines der schönsten, aber auch grausamsten Bilder von Return to Dust. Es zeigt zwei Charaktere an einem Ende, ausgestoßen aus der Gesellschaft, einander fremd, ohne viel Besitz. Ein Nullpunkt und Neustart in der Wildnis.
Ma und Guiying heißen die beiden Schweigsamen. Ma (Wu Renlin), der »vierte Bruder«, wird zu Beginn von seiner Familie ins Haus gerufen, wo seine neue Braut auf ihn wartet: Guiying (Hai Qing), unfruchtbar, in ihrem Gang behindert. Ihre Eltern wollen die hoffnungslosen Fälle miteinander vermählen, auch ohne deren Einverständnis. Und nun ziehen sie in die Welt, nachdem sie ihr Obdach verloren haben, um sich eine neue, gemeinsame Heimat zu errichten. Ein Haus soll mitten im Nirgendwo der chinesischen Provinz errichtet werden. Das Publikum darf hautnah ihrem Scheitern beiwohnen.
»Was meine Finger wussten«, nannte die Wissenschaftlerin Vivian Sobchak ihren Aufsatz über filmische Wahrnehmungsprozesse. Sobchak beschreibt darin die Filmerfahrung per se als eine leiblich sinnliche, eine durch Körper vermittelte und an Körperwissen adressierte, im Fleisch verankerte. Bei Return to Dust möchte man die Finger in Sobchaks Titel um die Füße erweitern. Was meine Füße wussten, was meine Füße spüren können. Die Bilder, die Li Ruijun inszeniert und welche die Kamera von Wang Weihua so elegant und in strengen Kompositionen einfängt, richten sich in erheblichem Maße an das taktile Nachempfinden.
Schlamm und Matsch reichen bis zum Knie. In Großaufnahme tritt ein Fuß auf die Masse ein, stampft sie fest in der Holzform, bleibt fast stecken in dem Brei, aus dem einmal Ziegel werden sollen. In anderen Szenen geht es barfuß durch Gras und nasse Tümpel. Hände binden Stroh, erschöpfte Körper wuchten Behältnisse mit Mörtel in die Höhe, um die Mauer ein Stück höher zu bauen. Return to Dust ist ein ungemein physischer Film über Arbeitsprozesse. Er zeigt sie in ihrer beschwerlichen Dauer, in Rückschlägen. Und er zeigt sie als spürbares, greifbares Agieren in einer sinnlichen und sinnlich erlebten Welt.
Wie anmutig können solche Handlungen überhaupt aussehen, bis sie unbehaglich werden? Das ist die Frage in Li Ruijuns sehenswertem Drama. Return to Dust fasziniert nicht nur mit der naturalistischen Archaik der Elemente, an denen sich seine Hauptfiguren abarbeiten. Er stellt damit auch eine Naturalisierung der bestehenden Verhältnisse zur Debatte. Trotz aller Mühen und Strapazen, die dieser Film in seiner langen Laufzeit von über zwei Stunden vorführt, zelebriert er eine gewisse Naturverbundenheit als Idyll – und mag das Leben noch so furchtbar sein. Beim Schlürfen der Nudelsuppe teilt man sich den Platz mit gackernden Hühnern, ein Esel ist Teil der Familie. Immer wieder fällt goldenes Licht auf die Szenerien und bringt selbst das größte Elend zum Glänzen.
Und die Figuren, Ma und Guiying? Sie arrangieren sich mit ihrem Schicksal und versuchen sich an einer Gegenwelt, nähern sich einander an, streben nach Glück in ihrer Misere. Träumen vom Zuhause als ewige Mühsal. Die Saat auf dem Feld wird rituell und symbolträchtig aufgeladen, bis sich das Zyklische der Jahreszeiten, des Beackerns und Anbauens auch in den Leben der Figuren manifestiert. Es geht darum, einen Ursprung zu finden, etwas fruchtbar werden zu lassen, heimisch zu werden, zumindest für kurze Zeit. Eine Zähmung der Landschaft als Kampf gegen die eigene Entwurzelung.
Einmal kommen Ma und Guiying in die große Stadt und nehmen an einer Wohnungsbesichtigung teil. Zu Propagandazwecken sind Kameras dabei. Alles schön und gut für die Menschen, aber wo sollen bitte die Tiere wohnen? Die urbane Moderne bietet keinen Platz für Lebensentwürfe wie jene von Ma und Guiying. Also zieht es die beiden doch wieder in das »einfache« Landleben zurück. Das Versprechen vom gesellschaftlichen Aufstieg passt nicht zum Bild, das man von seinem Platz in der Welt verinnerlicht hat.
Provokant und idealisierend sind also das wiederholte Betonen von Bescheidenheit sowie die Akzeptanz des Scheiterns an der Gesellschaft, die Li Ruijun hier inszeniert. Und dennoch gelingt ihm ein erstaunlich eigensinniges, ambivalentes Werk. Es emanzipiert sich von rein vordergründiger Verklärung, selbst wenn all die hinreißenden Bilder und zärtlichen Gesten noch so trügerischen Zauber versprühen. Weil sie bei aller Würde, die man den Figuren abringt, ihre unwürdigen Umstände nicht ausblenden können.
Return to Dust verortet seine Figuren ganz deutlich in umfassenden Ausbeutungsmechanismen, von Neid und Missgunst anderer ganz zu schweigen. Der Großgrundbesitzer ist krank, er braucht »Pandablut«. Ma kann mit der passenden Blutgruppe dienen. Schließlich muss der Herr gesunden, damit die Arbeits- und Zahlungskreisläufe im großen Miteinander fortgeführt werden können. Das heißt natürlich nur: bestehende Herrschaftsverhältnisse am Leben halten. Eine kannibalistische Vereinnahmung. Bis zur Erschöpfung wird Ma zur Ader gelassen.
Kann bei alldem also noch irgendeine Form von Erhabenheit geschehen? Das ist es doch, was Ma und Guiying sowie der gesamte Film suchen. Und zwar durchaus in dem Sinne, wie es Schiller in seinem Text »Über das Erhabene« als innere Spannung und Gleichzeitigkeit von Wehsein und Frohsein beschrieben hatte. Als Loslösen vom allein Sinnlichen und Schönen. Man federt über ein moralisches Bewusstsein die äußeren Zwänge und Gewalten ab, eignet sie sich an, indem man sich ihnen unterwirft. Li Ruijungs Helden stellen sich dieser irritierenden Herausforderung.
Und der Autorenfilmer weiß um die Kraft der Kunst, einen solchen Erkenntnisprozess mit aller Zwiespältigkeit und Emotionalität vorzuführen. Er setzt mit seinen Bildern selbst hinter die gefasste Aussöhnung mit dem Grausamen noch eine größere, bittere Wirklichkeit, die das Vergehen in der Zeit überdauert. Der Mensch, sein Besitz, ganze Biographien werden da dem Erdboden gleichgemacht. Einer wie der andere. Alltag im System. Dort in der Abgeschiedenheit, wo niemand hinsehen soll. China waren die kritischen Blicke auf eine solche Lebensrealität offenbar ein Dorn im Auge. In seinem Herkunftsland gelang Return to Dust ein Überraschungserfolg an den Kinokassen – bevor er zensiert und eingezogen wurde.