Österreich/D 2023 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Adrian Goiginger Drehbuch: Adrian Goiginger Kamera: Paul Sprinz Darsteller: Voodoo Jürgens, Agnes Hausmann, Ben Winkler, Rudi Larsen, Alex Miksch u.a. |
||
Der herrschenden Moral ein Ständchen singen und ein Schnippchen schlagen... | ||
(Foto: Pandora) |
»Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die „gute Sache“ sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.«
– Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum
Wer Adrian Goigingers großartige Filme seit 2017 gesehen hat, Die beste aller Welten (2017), Märzengrund (2022) und Der Fuchs (2023), wird auch in Rickerl – Musik is höchstens a Hobby Motive wiedererkennen, die Goigingers Kino von Anfang an geprägt haben: dysfunktionale Familienverhältnisse, ungewöhnliche Coming-of-Age-Geschichten und ein Ringen mit der eigenen Einsamkeit, die über einen reformierten Heimatbegriff zumindest etwas Linderung erfährt.
Auch in Rickerl, dem Eröffnungsfilm des diesjährigen Filmfestivals Max Ophüls Preis, werden diese Motive variiert, jedoch unterlegt sie Goiginger erstmals mit einem spielerischen, feinen Humor, der den Ernst und die tiefe Melancholie der früheren Filme nicht gleich widerruft, sondern zu etwas ganz Neuem, so leicht und schwer wie das Leben nun mal ist, vereint. Und in der wieder ein Heimatbegriff formuliert wird, der nichts Einlullendes, Nationalistisches hat, sondern in dem immer etwas Anarchistisches lauert.
Hier ist es der Alltag am Rande des Existenzminimums für einen Straßen- und Beislmusiker, Erich »Rickerl« Bohacek, der dann und wann in Wiener Kneipen und vor allem in einer auftritt und zur Gitarre selbstgeschriebene Lieder im Wiener Dialekt singt, meist aber nur mit den Leuten redet und trinkt, um dann und wann über das Arbeitsamt und eine mehr und mehr verzweifelte Mitarbeiterin bizarre Jobs als Friedhofsgärtner oder Verkäufer in einem Sexladen anzunehmen, um finanziell über die Runden zu kommen, und dabei auch noch genug Zeit für seinen achtjährigen Sohn zu haben, der zwischen ihm und seiner Ex-Frau etwas verloren hin- und herpendelt.
Goiginger erzählt diese dysfunktionalen Familienverhältnisse so intensiv und gnadenlos, aber auch genauso zärtlich wie in seinem autobiografisch geprägtem Langfilmdebüt Die beste aller Welten über den Alltag eines siebenjährigen Kindes und seine heroin-abhängige Mutter in Salzburg. Doch er nimmt sich in Rickerl genauso viel Zeit für seinen gescheiterten Liedermacherhelden, bezieht auch die Ex-Frau mit ein und wirft dann auch ein paar Blicke auf den Vater von Rickerl, der sich ebenfalls ein paar Mal in Rickerls Stamm-Beiserl einfindet und andeutet, dass Vaterschaften hier eine mindestens zweideutige, aber grundsätzlich schwierige Angelegenheit sind.
Doch Goiginger urteilt nicht, verurteilt nicht, sondern schafft es vor allem mit seinem Hauptdarsteller, einen Charakter zu schaffen, der eigentlich völlig egozentrisch um sich und seine Kreativität kreist, aber dennoch zu einer flapsigen Liebe fähig ist und sie auch will, so sehr will, dass es einen immer wieder völlig verblüffend umhaut.
Das dürfte nicht nur an Goigingers souveräner Regie und einem überragenden Drehbuch liegen, sondern vor allem an Goigingers Hauptdarsteller, dem Austropoper und Liedermacher Voodoo Jürgens, der Rickerl in seiner ersten Hauptrolle so spielt, als wäre es sein eigenes Leben. Das es zum Teil dann auch ist. Denn der österreichische Liedermacher steuert nicht nur die Musik mit ihren schwarzhumorigen Texten im Wiener Dialekt zu Rickerl bei, sondern ist mit einer ähnlichen Vaterproblematik groß geworden, um nach wechselnden Berufen – unter anderem auch auf einem Friedhof – zum Musiker mit Hits wie Heite grob ma Tote aus zu reifen.
Doch Goiginger erzählt natürlich kein Happy End, keine Erfolgsgeschichte, kein Biopic über einen berühmten Musiker, der es aus der »Gosse« ins Radio schafft, sondern zieht wie in seinen früheren Filmen die anarchistische Variante des eingangs zitierten Max Stirner vor, um dem möglichen Erfolg und der unweigerlichen Anpassung an die herrschende Moral ein Schnippchen zu schlagen. Und dazu gehört dann auch, dass die Menschen hier unverantwortlich handeln, alle rauchen und saufen, auf alles folkloristisch Aufgesetzte scheißen, auch wenn wir uns die ganze Zeit auch sprachlich sowieso in einer der großartigsten Städte der Welt befinden. Und wo Kinder nun mal verloren gehen. Aber auch wiedergefunden werden. Und sich dennoch irgendwie alle lieben. Das ist schrecklich, aber auch schön. Das ist grausam, aber auch herzzerreißend. Und zutiefst berührend. Und es macht Spaß. Weil bei aller Schwere hier immer auch gelacht wird, die Musik einen in den Himmel trägt und natürlich, weil Goiginger wie in seinen anderen Filmen nicht nur seinen Hauptdarsteller perfekt in Szene setzt, sondern auch hier Goigingers Arbeit mit einem Kinderdarsteller – Ben Winkler als Rickerls Sohn Dominik – einer der wenigen Glücksfälle dieser Art im gegenwärtigen deutschsprachigen Kino ist.