USA 2017 · 103 min. · FSK: ab 12 Regie: Chloé Zhao Drehbuch: Chloé Zhao Kamera: Joshua James Richards Darsteller: Brady Jandreau, Tim Jandreau, Lilly Jandreau, Cat Clifford, Terri Dawn Pourier u.a. |
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Auf der Suche nach neuen Identitäten |
Out of the blue
and into the black
They give you this,
but you pay for that,
And once you're gone,
you can never come back
When you're out of the blue
and into the black.
– Neil Young, My My, Hey Hey (Out Of The Blue)
Immer wieder ist der Blick von außen besonders präzise, besonders überraschend, sieht er doch Sachen, die der indigene Blick oft übersieht. Etwa als vor zwei Jahren die Engländerin Andrea Arnold in American Honey das Porträt einer Drückerkolonne im »American Heartland« entwarf oder der Blick des Schotten David Mackenzies in Hell or High Water auf die Unbilden weißer Armut in Texas. Ähnlich intensiv, lyrisch und dennoch knallharte Fakten in den Plot einbindend versteht es die chinesisch-amerikanische Regisseurin Chloé Zhao, die erst zu Studienzwecken ihren chinesischen Sprach- und Kulturraum verließ, den zermürbenden Alltag von Lakota-Sioux-Indianern im Pine-Ridge-Reservat des »American Heartland« zu schildern.
Bereits in ihrem Debütfilm Songs My Brother Taught Me hatte Zhao sich in dem Umfeld indigener amerikanischer Kultur bewegt und semidokumentarisch das Verhältnis eines Lakota Sioux und seiner jüngeren Schwester skizziert. Während der Dreharbeiten lernte sie Brady Jandreau kennen, einen Rodeo-Reiter, der sich wenig später beim Rodeo eine schwere Kopfverletzung zuzog und sich die Frage nach dem Plan B in seinem Leben stellen musste. Mit Hilfe von Bradys Erzählungen über diese Neuorientierung schrieb Zhao ein Drehbuch, das fiktive Elemente mit Bradys Fakten mischt; gleichzeitig konnte sie Brady dazu bewegen, die Hauptrolle zu übernehmen.
Das Ergebnis ist eine atemberaubende, zärtliche, großartig gefilmte Bestandsaufnahme nicht nur gegenwärtigen, indianischen Alltags in einem abgeschiedenen Reservat, sondern gleichzeitig auch ein Plädoyer über die Macht der Sprache. Denn Brady, dessen Peer-Group fast ausschließlich aus anderen Rodeo-Reitern besteht, die sich mit ihren Auftritten nicht nur ihren Lebensunterhalt, sondern auch ihr Selbstverständnis erkämpfen, muss erst lernen, über sich und seine neue Situation zu sprechen. Wie schwer das Schweigen in Bradys Beziehungen zu seinen Freunden und seinem Vater wiegt, wird vor allem durch die ganz anders geartete Beziehung zu seiner geistig behinderten Schwester deutlich, die gerade wegen ihrer Defizite Sprache als Rettungsmittel instrumentalisiert. Erst über sie lernt Brady nicht nur mit Pferden zu sprechen, sondern über sich zu sprechen, gleichen diese Gespräche immer wieder den gefährlichen Gratwanderungen des Rodeos, bei denen eine falsche Bewegung ausreicht, den Reiter zu Fall zu bringen. Doch wie durch seine Rodeos, so geht Brady auch durch diese Transformationsphase fast unbeirrt in ein sich vage konturierendes, neues Leben.
Dabei tauchen wie zum Abschiednehmen immer wieder die Fragmente seines alten Selbstverständnisses, seines alten Lebens auf. Wir sehen Brady als Beobachter auf Rodeos und beim Ausleben seines anderen großen Talentes als Pferdeflüsterer, wir sehen ihn auf Viehauktionen dem »kapitalistischen Rap« der Auktionatoren lauschen, eine Kunst, die Werner Herzog erstmals in ihrer ganzen Vielfalt in seiner auch heute noch verblüffenden Dokumentation How Much Wood Would a Woodchuck Chuck (https://www.youtube.com/watch?v=hkcsz9Qujm) 1976 einfing – und die vielleicht auch ein Grund dafür sein könnte, dass Zhao 2017 den Werner-Herzog-Filmpreis erhalten hat.
Denn sich für diese Details ebenso viel Zeit zu lassen wie für die subtil eingestreuten Grenzen dieser isoliert und marginalisiert lebenden Gesellschaft – die desillusionierenden Bewerbungsgespräche in einer Arbeitsagentur, die ernüchternden Besuche von Brady in einer Reha-Klinik, in der er seinen früher besten Freund besucht, der bei seinem Sturz weniger Glück als Brady gehabt hat – all das dann auch noch mit überwältigenden Natur- und Pferdeaufnahmen verquickt zu sehen, ist mutig und so gut, dass man jedem Bibi & Tina-, Wendy- und Ostwind-Fan wünscht, über diesen Film zu stolpern.
Aber mehr noch als all das, ist Zhaos Rider auch ein schillernder ethnologisch-ethnografischer Mosaikstein, der irritierend davon erzählt, dass Indianer heute vielleicht die besseren Cowboys sind, aber damit in den seltensten Fällen so etwas wie ein sicheres, erfolgreiches Leben führen können.
Mit Taylor Sheridans Wind River (2017) ist Chloé Zhaos The Rider damit fast die ideale Ergänzung zu einem »indianischen« Triptychon, das unmissverständlich deutlich macht, wie indigene, indianische Kultur sowohl durch wirtschaftliche Interessen als auch durch amerikanische Populärkultur immer wieder unter Druck gerät und sich seit den Zeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie sie im ebenfalls noch in den Kinos laufenden Hostiles differenziert geschildert werden, nur wenig geändert hat.
»Nie wieder reiten, nie wieder Rodeos.« – Es ist eine niederschmetternde Nachricht, die der junge Brady Blackburn von seiner Ärztin nach einem schweren Reitunfall erhält. Von nun an trägt er eine Stahlplatte im Kopf – jeder neue Sturz kann tödlich sein. Niederschmetternd ist sie, weil Brady nicht einfach das Reiten liebt, sondern weil es sein Leben ist. Er ist Pferdetrainer und Rodeo-Reiter, nie wollte er etwas anderes machen – im übrigen könnte er es auch gar nicht. Denn Brady ist ein Indianer, und lebt in denkbar einfachen Verhältnissen in einem Indianerreservat im US-Bundesstaat South Dakota – dort sind die Möglichkeiten zu arbeiten, erst recht die, durch Arbeit aus den engen Lebensbedingungen des Reservats herauszukommen, sehr begrenzt.
Und jetzt soll die eine Chance, die er hatte, ein für allemal vorbei sein? Sein Vater will das eigene Pferd verkaufen. »Manchmal werden Träume einfach nicht wahr«, sagt er zu ihm – ein schwacher Trost.
Wie Brady aus dieser misslichen Lage wieder aufsteht, wie er gegen alle Widerstände des Lebens, mit einem spielsüchtigen Vater und einer geistig behinderten Schwester, seinen ganz persönlichen Teil des American Dream verwirklicht, das ist die Geschichte dieses
überraschenden, bemerkenswerten, sehr gelungenen und gar nicht so »typisch« amerikanischen Films.
The Rider ist ein Beispiel für die Renaissance des Western-Genres, die sich in den letzten Jahren beobachten lässt. Gemeint sind damit weniger die klassischen Heldensagen von gebrochenen Siegern und ungebrochenen Verlieren, wie sie John Ford erzählt hat, sondern eher die komplizierteren, melancholischen Abgesänge auf das Amerikanische Jahrhundert, die wir von Anthony Mann oder John Huston kennen. Deren Filme sind von einer zugleich sehr poetischen
Melancholie durchzogen. Das gilt auch für The Rider, den neuesten von einer Handvoll Western und Neo-Western, die in den letzten Jahren ihren Weg auch ins Kino gefunden haben. Einige von ihnen spielen wie The Rider in Indianerreservaten, und versuchen neues über das Verhältnis der Weißen und der amerikanischen Ureinwohner zu erzählen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass The Rider von einer
Frau gedreht wurde. Und dass diese Chloé Zhao heißt – sie wurde in China geboren, wenn sie auch einen großen Teil ihres Lebens in den USA verbracht hat. Zhao hat einen Film von großer stilistischer Konsequenz und visueller Wucht gedreht. Wie bei allen guten Western ist auch hier die Natur ein Hauptdarstelller, also die bergige, karge, wüstenähnliche Landschaft des amerikanischen Nordwestens, aber einfach auch das prachtvolle Sonnenlicht. Immer wieder filmt die Regisseurin
Abenddämmerung, das Glutrot des Westens, und das gibt allem hier eine große Pracht. Offensichtlich kennt die Regisseurin auch die Filme von Terrence Malick und Robert Redford, Regisseuren also, die das Amerika der Gegenwart lieben, ohne deshalb mit der nötigen Kritik zu sparen.
Neben solche Poesie tritt aber – und das ist die zweite Stärke von The Rider – ein großer Realismus: Denn der Film wurde tatsächlich in einem Reservat in South Dakota gedreht, und fängt die dortige Wirklichkeit gut ein. Hinzu kommt, dass der Rahmen der Geschichte auf Tatsachen zurückgeht, die hier fast dokumentarisch nachgestellt wurden, und zwar von dem realen Pferde-Trainer, dem sie selbst zugestoßen sind, und von dessen Familie und Freunden. Diese Authentizität gibt allem eine unprätentiöse, aufmerksame Wirklichkeitstreue – es ist eben nichts aufgesetzt und verkitscht, keine Hollywood-Legende, nach der man alles kann, wenn man nur will. Sondern das wahre Leben.
Ein Teil davon sind vollkommen gebrochene Männlichkeitsvorstellungen: Immer wieder sieht man hier junge und ältere Männer mit zerschlissenen, kaputten, verkrüppelten Körpern. Fortwährend sind irgendwelche Gliedmaßen eingegipst; auf einer Ranch arbeitet ein Mann mit Armprothese und ein guter Freund von Brady ist seit einem Unfall größtenteils gelähmt.
Zum wahren Leben gehören hier aber auch die großartigen und faszinierenden Seiten der Rodeo-Szene: Auch Brady teilt
diese Faszination und will sich nicht davon, auch nicht von seinen Verletzungen, abhalten lassen. »Ich reite«, erklärt er seinem Vater kurz und bündig, »ich bin fest davon überzeugt, dass Gott jedem von uns einen Lebenssinn verliehen hat. Pferde müssen über die Prärie galoppieren. Und Cowboys müssen reiten.«
Chloé Zhao ist ein großartig einfühlsamer Film gelungen, der zwischen Pathos und Melancholie immer eine gute Balance hält.